Im Land des weiten Himmels
sich endlich aus ihrer Erstarrung löste und tief durchatmete. »Sind alle Grizzlys so groß?«, fragte sie.
»Die Männchen sind größer«, antwortete er.
15
Es war bereits spät am Abend und immer noch taghell, als sie die Hütte für die Nacht erreichten. Darin gab es einen altmodischen Ofen, einen Holztisch mit zwei Stühlen und einen Schrank mit Vorräten, in der Ecke stand eine Pritsche mit einer fleckigen Matratze. Das einzige Fenster war so schmutzig, dass man kaum hindurchsehen konnte.
Hannah war aus New York ganz andere Anblicke gewöhnt und erschrak nicht, als eine Maus an ihr vorbeihuschte. Sie öffnete sofort das Fenster und ließ frische Luft herein. Während Buddy sich um die Maultiere kümmerte und die Packen mit den Lebensmitteln in die Hütte trug, damit sie keine Bären anlockten, schürte sie ein Feuer im Ofen und kehrte mit dem Reisigbesen, der in einer Ecke lehnte, den Boden sauber. In einem löchrigen Blecheimer holte sie frisches Wasser aus dem Bach hinterm Haus.
Als der Postreiter die Hütte betrat, warteten ein Sandwich und heißer Tee auf ihn. Er brummte dankbar, machte sich sofort darüber her und nickte anerkennend nach dem ersten Schluck. »Sie schlafen auf der Matratze«, sagte er zwischen zwei Bissen. »Ich hab eine Decke dabei und bleibe bei den Maultieren draußen. Wenn Sie einen Schuss hören, verrammeln Sie die Tür.«
»Kommt gar nicht infrage.« Sie hatte beide Hände um ihren Teebecher gelegt. »Ihre Decke können Sie auch neben den Ofen legen. Ich weiß, es ziemt sich nicht für unverheiratete Frauen und Männer, im selben Raum zu schlafen, aber keine Angst, Mr Cowboy. Ich tue Ihnen nichts.«
Er grinste. »Sie sind mir vielleicht eine.« Es klang wie ein Lob.
Hannah war so müde von dem anstrengenden Ritt, dass sie trotz der andauernden Helligkeit – im Juni hielt das Tageslicht in diesen Breiten über zwanzig Stunden an – sofort einschlief. Hannah hatte nur ihre Jacke ausgezogen und ihren Kopf darauf gebettet, um nicht mit der schmutzigen Matratze in Berührung zu kommen, war aber viel zu erschöpft, um besonders pingelig zu sein. In New York hatten sie jeden Tag gründlich geputzt, doch selbst in ihrer sauberen Wohnung hatte es Spinnen und Käfer gegeben.
In dieser Nacht wurde sie erneut durch den Motorenlärm eines Flugzeugs geweckt. Sie lief aus der Hütte und sah die rote Jenny über der Lichtung kreisen, doch diesmal war es tatsächlich Frank, der die Maschine in einem kühnen Manöver auf der Wiese landete und ihr entgegenlief. »Oh Frank!«, seufzte sie und sank in seine Arme, »von diesem Augenblick habe ich die ganze Zeit geträumt!«
Sie küssten sich stürmisch und wollten gar nicht mehr voneinander lassen, doch alles kam ihr ein wenig zu kitschig und unwirklich vor, um wahr zu sein, und tatsächlich schreckte sie schon wenig später aus dem Schlaf und stellte fest, dass sie nur geträumt hatte. Sie stand auf und lief in eine Wolldecke gehüllt zum Fenster, blickte zum Himmel empor, der sich nach dreistündiger Dunkelheit schon wieder aufgehellt hatte.
Vergeblich versuchte sie, sofort wieder einzuschlafen. Der Traum ging ihr nicht aus dem Kopf, und jedes Mal, wenn sie die Augen schloss, begann er von Neuem, und sie sah dieses unwiderstehliche Lächeln, das sie auf der Wiese bei Central City und in Seattle so verzaubert hatte. Jahrelang hatte kein Mann sie so sehr beeindruckt, dass sie mehr als zwei- oder dreimal mit ihm ausgegangen war, und ausgerechnet ein Draufgänger, der wie ein Zirkusartist durch die Lande zog und wahrscheinlich mehr Frauen kannte, als man an zwei Händen abzählen konnte, machte einen so nachhaltigen Eindruck auf sie, dass sie es nicht schaffte, sein Bild zu verdrängen.
Sie hatte sich in ihn verliebt, zum Teufel, sie hatte sich tatsächlich in ihn verliebt und das ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, als sie alle andere Bindungen gelöst hatte, sogar die zu ihrer besten Freundin, und in einem neuen Land ein neues Leben beginnen wollte. Mach dich endlich von ihm frei, redete sie sich gut zu, vergiss ihn und zeige erst einmal, dass du auf eigenen Beinen stehen kannst, bevor du dich einem Mann verschreibst. Was nützt es denn, wenn du irgendwelchen Träumen nachjagst, die sowieso nicht in Erfüllung gehen können? Frank wäre kein Mann für dich gewesen, viel zu locker und zu unstet, so einer nimmt das Leben nicht ernst und wird ewig ein kleiner Junge bleiben. Der taugt nicht für harte Arbeit, wie sie dir bevorsteht. Du bist endlich
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