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Im Land des weiten Himmels

Im Land des weiten Himmels

Titel: Im Land des weiten Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Wolfe
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Himmel sah und sich in einem düsteren Zwielicht wiederfand, das einem vorgaukelte, am späten Abend eines normalen Tages unterwegs zu sein. Aber welcher Tag war in diesem Land schon normal?
    Im Wald klangen die Schritte der Maultiere, die sich hier schwertaten, gedämpfter, und das leise Rauschen des Windes und das Krächzen eines einsamen Raben waren die einzigen Geräusche in dem düsteren Halbdunkel. Hannah wagte nicht zu sprechen, fühlte sich an einen Sonntag ihrer Kindheit erinnert, als sie den Gottesdienst im Ulmer Münster besucht hatten und sie vor lauter Ehrfurcht nicht einmal ein »Amen« herausgebracht hatte. Hier war es ähnlich, nur war das Gefühl, in einer riesigen Kathedrale zu sein, zwischen den Bäumen noch viel stärker und erhabener.
    Hannah ließ ihren Blick besorgt durch das Halbdunkel gleiten. Sie hatte plötzlich das Gefühl, beobachtet zu werden, nicht von tausend Augen, sondern von einem Wesen, das ihnen im Schutz der Bäume folgte und sich so leise bewegte, dass man keinen seiner Schritte hörte. Zuerst glaubte sie, sich dieses Wesen nur einzubilden. Eine junge Frau, die aus New York kam, nur die Zivilisation und die große Stadt gewohnt war, konnte sich bei ihrem ersten Ritt in die Wildnis leicht seltsame Dinge einbilden. Doch auch die Maultiere waren nervös geworden, schnaubten unruhig und bewegten die Ohren, schienen nach der Begegnung mit der Grizzlymutter besonders auf der Hut zu sein.
    Der Postreiter drehte sich zu Hannah um und gab ihr mit einem vielsagenden Blick zu verstehen, dass er sich der Gefahr bewusst war. Er ließ sich jedoch nichts anmerken und schien der Routine eines langen Rittes zu folgen, als er gegen Mittag auf einer Lichtung anhalten ließ und aus dem Sattel stieg.
    Noch in der Bewegung riss er sein Gewehr aus dem Sattelschuh und richtete den Lauf auf eine Stelle im Wald. Seine Stimme gellte unnatürlich laut in der Stille, als er rief: »Hände hoch und rauskommen! Sofort! Und glaub bloß nicht, dass ich dich nicht sehen kann. Ich hab dich genau im Visier!«
    Einen Moment, der Hannah wie eine Ewigkeit vorkam, regte sich gar nichts, dann hörte sie plötzlich Schritte, und ein Indianer trat aus dem Wald. Ein junger Mann, keine achtzehn und mit einem panischen Ausdruck im Gesicht. Er hatte beide Hände erhoben und zitterte. »Nicht schießen, Mister! Bitte nicht schießen! Ich wollte Ihnen nichts tun, ehrlich nicht! Nicht schießen!«
    »Adam!«, erkannte Hannah den Jungen sofort. »Adam Parker!«
    Buddy wandte erstaunt den Kopf. »Sie kennen den Burschen?«
    »Adam Parker«, wiederholte sie. »Er war auf dem Dampfschiff, mit dem ich nach Alaska gekommen bin. Als blinder Passagier. Er ist bei Weißen aufgewachsen … Bei einer Familie in Kanada … Er will in seine Heimat zurück …«
    »Bei einer weißen Familie?«, hakte Buddy nach.
    Der Indianer nickte hastig. »Den Parkers …, in Prince Rupert. Sie wissen, dass ich nach Hause will. Ich bin ihnen nicht weggelaufen.« Er atmete erleichtert auf, als Buddy den Gewehrlauf senkte. »Ich will nach Hause, Sir.«
    »Nach Hause?« Der Postreiter war immer noch misstrauisch. »Wo liegt dieses Zuhause, Adam? Im Chatanika Valley? Gehörst du zu den Tanana?«
    »Ja, Sir. Ich bin ein Tanana.«
    Buddy deutete mit dem Gewehrlauf auf die Kleidung des Indianers, seine Baumwollhose, die zugeknöpfte Felljacke, die leicht zerfledderte Wollmütze. »Du bist wie ein Weißer angezogen, siehst nicht wie ein Wilder aus.«
    »Wir sind keine Wilden, Sir.«
    »Und verdammt gutes Englisch sprichst du auch.«
    »Ich war auf der Schule. Vier Jahre lang.«
    »Das ist mehr, als ich von mir sagen kann«, erwiderte der Postreiter ehrlich. »Und warum bist du dann nicht bei deinen Zieheltern geblieben? Du sprichst Englisch, du kannst zupacken, nehme ich an … Du hättest doch bestimmt Arbeit in Prince Rupert bekommen. Was willst du hier oben?«
    »Darf ich die Hände runternehmen, Sir?«
    »Meinetwegen. Also?«
    Adam nahm die Hände herunter und massierte sie verlegen. »Ich folge meinem Traum. Erst wenn ich meinen Schutzgeist getroffen habe und weiß, welches Tier mich auf meinem Weg durch mein Erwachsenenleben begleitet, kann ich entscheiden, in welche Richtung ich gehen werde. So ist es Brauch bei meinem Volk, auch wenn viele das schon vergessen haben.«
    »Und du glaubst diesen Hokuspokus?« Besonders einfühlsam war Buddy nicht. »Ich denke, du bist zur Schule gegangen, dann müsstest du doch wissen, dass sich ein anständiger Mensch nur

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