Im Land des weiten Himmels
Und sollte er tatsächlich … Ich sage es nur ungern, aber sollte er uns tatsächlich verlassen haben, wäre erst einmal zu klären, wer der rechtmäßige Erbe ist. Tut mir leid, Ma’am, aber ohne einen Bürgen lässt sich da leider nichts machen.
Sie stand auf und wollte die Küche schon wieder verlassen, als sie die stählerne Kassette ganz hinten auf dem Küchenschrank entdeckte. Eine Geldschatulle, wie manche Firmen sie benutzten, um ihr Geld zur Bank zu tragen. Sie musste sich auf einen Stuhl stellen, um sie herunterzuholen. Die Kassette war verschlossen. Sie kramte in den Schubladen der Kommode nach dem Schlüssel, fand ihn nach einigem Suchen und öffnete sie auf dem Tresen. Darin lagen die gebündelten Briefe des Pfarrers aus der alten Heimat, die Bildpostkarte des Segelschiffes, mit dem er anscheinend nach Kanada gekommen war, und ein mehrfach gefalteter Briefbogen. In steilen, ungelenken Buchstaben stand dort:
»Liebe Lisbeth, falls ich nicht mehr am Leben sein sollte, wenn Du hier eintriffst, soll dieses Gold Dir gehören. Ich weiß, es ist nicht viel, aber genug, um Dir über die ersten Jahre hinwegzuhelfen. Auch mein Haus und der kleine Flecken Land, auf dem es steht, sollen Dir gehören. Verkaufe es ruhig und ziehe nach Anchorage oder Fairbanks, wo sicher eine bessere Zukunft auf Dich wartet als hier in der Wildnis. Ich hätte gerne noch ein paar Jahre mit Dir, liebe Lisbeth, verbracht, und ich schäme mich fast dafür, Dich nach Alaska gelockt zu haben. Aber ich war schwer krank, und die Ärzte haben mir keine Hoffnung gemacht. Es verabschiedet sich von Dir in aufrichtiger Liebe, Dein Leopold.«
Hannah blickte ungläubig auf das Schreiben und durchsuchte den Inhalt der Schatulle noch einmal gründlich, konnte aber nichts finden. Es gab kein Gold. Sie stieg auf den Stuhl und fuhr mit der Hand über den Küchenschrank, aber auch dort war nichts zu finden. Enttäuscht legte sie die Papiere und Bilder in die Schatulle zurück, schloss sie ab und stellte sie an ihren Platz zurück. Onkel Leopold hatte das Gold bei sich, anders konnte es nicht sein. Er war zu einem Jagdausflug aufgebrochen und hatte es mitgenommen. Oder er hatte Besuch von einem ungebetenen Gast bekommen, der sich in seinem Haus breitgemacht hatte und durch Zufall auf die Schatulle gestoßen war.
Sie suchte noch einmal das ganze Haus ab und fand einige Münzen in einer Jacke ihres Onkels. Gerade genug für ein Essen in einem Restaurant oder ein paar Kleinigkeiten im Gemischtwarenladen, aber lange nicht ausreichend, um Vorräte für ein Roadhouse einzukaufen. Ganz zu schweigen von der Einrichtung, die sie brauchte. Ihr half nur ein Kredit, sonst würde ihr nichts anderes übrigbleiben, als sich eine Stelle in Fairbanks und ein Zimmer zu suchen. Etwas, das sie auf keinen Fall wollte.
Doch noch war es nicht so weit. Vorläufig würde sie sich weiter um ihre neue Bleibe kümmern. Immerhin bestand noch die Hoffnung, dass ihr Onkel zurückkehrte. Oder sie fand das Gold, das er ihrer Mutter vermacht hatte. Oder die Bank erklärte sich doch zu einem Kredit bereit. Noch war sie nicht am Ende.
Sie steckte die Münzen ein und ging in den Flur zurück.
Gleich neben der Treppe wurde sie auf einen eingebauten Schrank aufmerksam, in dem kein Gold, sondern ein Gewehr, zwei Magazine und einige Schachteln mit Patronen lagen. Sie nahm das Gewehr heraus und betrachtete es misstrauisch. Sie mochte keine Waffen, verabscheute sie sogar, doch die Begegnung mit der Grizzlymutter und ihren Jungen hatte ihr gezeigt, dass es in der Wildnis durchaus von Vorteil war, sich mit einer Schusswaffe verteidigen zu können. Vielleicht würde ihr der Postreiter beibringen, wie man mit dem Gewehr umging. Zur Sicherheit nahm sie es aus dem Schrank und stellte es griffbereit neben die Haustür, die sie mit dem Riegel verschloss. Dann fiel sie todmüde ins Bett, kam vor Müdigkeit gar nicht auf die Idee sich in der fremden Umgebung zu fürchten, sondern schlief sich nach langer Zeit einmal wieder richtig aus.
Als sie am nächsten Morgen das Haus verließ und Captain sein Fressen und frisches Wasser brachte, machte der Husky einen niedergeschlagenen Eindruck. Weder fraß er von dem getrockneten Hundefutter, das sie in der Küche gefunden hatte, noch trank er von dem Wasser. Wahrscheinlich litt er unter der Abwesenheit seines Herrn.
Der Vorratsspeicher vor dem Haus war gut gefüllt. Getrockneter Lachs, zwei Dauerwürste, Zwieback, Mehl, Reis, Kartoffeln, Nudeln und etliche
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