Im Leben wird dir nichts geschenkt.
herrschten milde Temperaturen, und es war ein wunderbares Gefühl, draußen durch die Straßen zu schlendern, als ich meinen ersten Sony Walkman zu Gesicht bekam. Mit siebzehn fühlte ich mich jung, schön und bereit, die Metropole zu erobern. Ich war unglaublich beeindruckt, als ich diesem männlichen Model aus Amerika dabei zusah, wie er mit diesen riesigen Kopfhörern an seinem klobigen Walkman auf Inline-Skates durch den Parc Monceau jagte. Ich konnte nicht glauben, dass jemand gleichzeitig Musik hören und Sport treiben konnte, und sah amüsiert und staunend zwei Mal hin. Er sah so unglaublich cool aus, und genau diese Art Darbietungen neuster technischer Errungenschaften hatte ich im modebewussten Paris erwartet. Als ich später die astronomischen Preise für diese Walkmans sah, fiel ich fast um. Offensichtlich war ich in der Zukunft angekommen, dabei erwies sich das Autotelefon, das ich etwa um die gleiche Zeit ausprobierte, als noch kostspieligerer Luxus. Bis auf den heutigen Tag nimmt mir meine Mutter noch nicht ganz ab, dass ich im Auto saß, als ich sie damals nach meiner Ankunft in Paris freudestrahlend anrief: zu der Zeit waren diese Telefone noch nicht einmal auf dem Markt. Ich teilte mir mit zwei anderen Models eine Wohnung in Montmartre. Sie lag am Fuß des Hügels, der zum Moulin Rouge hinaufführt. Die Büros von Copenhagen Elite befanden sich in einem alten Gebäude im Zentrum von Paris. Dort konnte es leicht passieren, dass man Topmodels wie Janice Dickinson, Jerry Hall oder Gia – Gia Marie Carangi – über den Weg lief. Gias tragisches Leben, das Angelina Jolie später in einem Film verkörpern sollte, endete mit sechsundzwanzig Jahren. Mir ist sie als Freundin in Erinnerung und als eine Frau, die bei mir mit ihrer absolut exklusiven Lebensweise einen unauslöschlichen Eindruck hinterlassen hat. Auf ihren Fotos, die laufend die Titelseiten von Vogue oder Cosmopolitan und vielen anderen Modezeitschriften zierten, war sie eine Göttin, doch ich war schockiert, als ich sie eines frühen Morgens sah, bevor die Visagistin Hand angelegt hatte. Ich sah eine junge, verlorene Seele vor mir, die solche Qualen litt, dass sie sich nur noch mit Heroin betäuben konnte. Sie hatte dunkle Augenringe und zitterte am ganzen Körper. So etwas war mir noch nie begegnet, und die Wirklichkeit übertraf alles, was man an Sucht in Filmen zu sehen bekam; es war beängstigend.
Sie hatte ihre Karriere in New York begonnen und wurde vom ersten Tag an von den berühmtesten Fotografen der Welt ins beste Licht gerückt. Das kleine bisexuelle Wesen aus Philadelphia war für das harte Modelgeschäft viel zu zart besaitet und bezahlte dafür mit seinem Leben. Am 18. November 1986 starb Gia an AIDS, und kaum jemand nahm Notiz davon. Ihre Lebensgeschichte machte sie schließlich berühmt, doch als man in ihr das erste Supermodel der Welt erkannte, war es bereits zu spät. Sie kam mir wieder in den Sinn, als ich dabei war, mich mit meiner eigenen Sucht zu vergiften.
In meiner Zeit in Paris bekam ich schmachtende Briefe von Gia. Sie beteuerte mir immer wieder ihre Liebe, was mir entsetzlich peinlich war. Ich hatte keinerlei Probleme mit Homosexualität, die in der dänischen Gesellschaft längst akzeptiert war, sondern fühlte mich einfach nur unwohl bei dem Gedanken, dass sie sich von mir angezogen fühlte. Folglich schrieb ich ihr behutsame, freundliche Briefe zurück und war mir dabei wohl bewusst, dass ich ihr nicht die Antwort geben konnte, die dieser verletzliche Mensch sich ersehnte. Ich besaß einen gesunden Selbsterhaltungstrieb und genügend Widerstandskraft, um in dieser Welt, in der wir beide unser Glück suchten, zu überleben.
Paris und mich verband eine weniger harmonische Beziehung. In nur wenigen Monaten durchlief sie alle Phasen vom Honeymoon bis zu unüberbrückbaren Differenzen. Mein Arbeitsleben war die Hölle auf Erden – unendlich viel schlimmer als alles, was mir in Deutschland begegnet war. Ich kam mir wieder ganz und gar wie die Giraffe vor und bekam Panikattacken. »Wofür halten Sie sich eigentlich?«, fragten die Künstleragenturen. Da war es also wieder. »Sie sind zu dünn …« »Wie sehen Sie denn aus?« »Ihr Haar ist einfach schrecklich!« »Wie können Sie es wagen, mit nur drei Fotos in der Mappe anzutreten!« »Machen Sie einfach, dass sie rauskommen!« Ich wurde verbal und physisch herumgestoßen. Wo auch immer ich mich vorstellte, stieß ich nicht nur auf Ablehnung, sondern auf
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