Im Licht des Vergessens: Roman (German Edition)
Bee, ohne anzuklopfen. An dieser Tür hatte er noch nie anklopfen müssen. Er rief nach ihr, aber da weder Fernseher noch Radio an waren, lief er einfach quer durchs Haus.
Wenn sie zu Hause war, hatte sie bestimmt Gesellschaft, wie sie es nannte. Sie hielt nicht viel von Stille. Er bewegte sich so selbstverständlich in ihrem Haus, als wäre es sein eigenes. Da sah er sie durchs Küchenfenster.
Sie kniete vor einem ihrer Blumenbeete, hatte einen großen Strohhut mit einem wild geblümten Band auf dem Kopf und trug rosa Gartenhandschuhe.
Ein liebevolles Gefühl durchzog ihn.
Sie war ihm eine Mutter gewesen, als er schon längst erwachsen war, hatte ihm eine Familie geschenkt, zu der zu gehören er nie zu hoffen gewagt hätte, und ein Zuhause, das er nirgends sonst gefunden hätte.
Er wusste, dass ein Krug mit Tee im Kühlschrank stehen würde und Kekse in der Schale mit dem grinsenden Kuhgesicht lagen. Er holte zwei Gläser aus dem Schrank, füllte sie mit Eis und griff nach einem Teller für die Kekse. Er trug alles zu dem kleinen Tisch im Schatten eines roten Sonnenschirms und ging dann durch den Garten zu ihr.
Sie sang mit ihrer brüchigen, holprigen Stimme. Er erkannte »The Dock of the Bay«. Als er den MP3-Player sah, den sie an ihrem Rock befestigt hatte, vermutete er, dass sie ein Duett mit Otis sang.
Er wollte schon sanft ihre Schulter berühren, in der Hoffnung, sie nicht zu erschrecken, zuckte jedoch zusammen, als sie plötzlich sagte: »Junge, warum arbeitest du heute nicht?«
»Ich dachte, du hättest mich nicht gehört.«
»Das habe ich auch nicht.« Sie machte die Musik aus, während er in die Hocke ging. »Aber du wirfst immer noch einen Schatten.« Sie musterte ihn misstrauisch. »Du faulenzt also heute, Duncan?«
»Ich hatte heute Morgen bereits ein Treffen wegen des Lagerhausprojekts und habe später auch noch zu tun. Aber wenn man nicht mal mehr kurz Pause machen darf, um mit der Liebe seines Lebens zu flirten, was hat das Leben dann noch für einen Sinn?«
Sie grinste breit und gab ihm einen zärtlichen Schubs. »Alles nur Gerede. Du kannst übrigens auch mit mir flirten, indem du mir hilfst, dieses verfluchte Unkraut zu jäten.«
Der Hut spendete ihrem Gesicht zwar Schatten, trotzdem standen ihr Schweißperlen auf der Stirn. Bei dieser Hitze hatte sie lange genug im Garten gearbeitet, beschloss Duncan. »Ich jäte für dich, nachdem wir bei ein paar Gläsern Eistee und Keksen geflirtet haben.«
Mit geschürzten Lippen sah sie zum Tisch hinüber. »Das sieht verführerisch aus. Dann hilf mir mal auf.«
Nachdem sie sich an den Tisch gesetzt hatten und Ma ihre rosa Gartenhandschuhe samt ihrer Gartenschürze verstaut hatte, trank sie durstig ihren Tee. »Es zieht immer mehr zu«, sagte sie. »Heute Nachmittag wird es bestimmt noch ordentlich regnen. Ich hoffe, du hast nichts draußen zu erledigen.«
»Teils, teils. Warum darf ich dir diesen Sommer keine Kreuzfahrt schenken, Ma Bee? Oder irgendeine andere Reise?«
»Ich bin gern hier, danke. Was hast du auf dem Herzen? Du bist doch nicht wirklich hergekommen, um mit mir zu flirten. Macht dir deine Rothaarige Sorgen? Phineas hat mir erzählt, was mit ihrem Exmann passiert ist. Er hat gesagt, du seist dabei gewesen.«
»Es war … Um das zu beschreiben, fehlen mir die Worte.« Er nahm einen großen Schluck.
»Es war abgrundtief böse. Das Wort böse wird so oft verwendet, dass es fast schon harmlos wirkt. Aber es war abgrundtief böse. Kannst du nicht mehr schlafen? Ich kann dir einen Kräutertee mischen, der dir vielleicht hilft.«
»Nein, mir geht es gut. Aber das ist eine ganz schlimme Sache, Ma. Dieser Typ hat behauptet, diesen Jungen umgebracht zu haben. Den, der auf der East Side Geiseln in dem Spirituosenladen genommen hat. Er hat ihn erschossen, nachdem ihn Phoebe zum Aufgeben überredet hatte. So gesehen mache ich mir wirklich Sorgen um sie. Sie weiß, was sie tut, aber …«
»Wenn einem jemand wichtig ist, macht man sich Sorgen um ihn.«
»Ihre Familie sitzt jetzt mehr oder weniger in ihrem Haus in der Jones Street fest, während sie unterwegs ist und weiß, was sie tut. Ihre Mutter … Na ja, sie hat so manchen Schicksalsschlag erlitten.«
Er fing an, ihr davon zu erzählen, und hörte nicht mehr auf, bis sie genau wusste, was er wusste, was er dazu meinte, was ihm aufgefallen war.
»Das Mädchen hat es wirklich nicht leicht. Jede alleinerziehende Mutter hat es nicht leicht. Und dann noch die Sache mit ihrer Mutter.«
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