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Im Licht des Vergessens: Roman (German Edition)

Im Licht des Vergessens: Roman (German Edition)

Titel: Im Licht des Vergessens: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nora Roberts
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waren ihre Hände beschäftigt, sodass ihre Gedanken zur Ruhe kamen.
    Sie wollte nicht jedes Mal Angst haben, wenn Phoebe das Haus verließ, oder ihre Familie wie sie zu Gefangenen dieser vier Wände machen. Sie durfte nicht zulassen, dass diese Angst von ihr Besitz ergriff, sich ihrer bemächtigte. Sie kam bekanntermaßen schleichend, durchdrang sie langsam und engte ihren Bewegungsradius immer mehr ein.
    Sie konnte immer noch hinaus auf die Terrasse gehen oder in den Garten, aber auch das fiel ihr zunehmend schwerer. Wenn Carly nicht gewesen wäre, hätte Essie längst nicht mehr die Kraft dazu. Auch dieser Tag würde kommen, sie spürte, wie er näher rückte, jener Tag, an dem sie nicht mehr auf der Veranda sitzen und mit ihrer heiß geliebten Enkelin ein Buch lesen konnte.
    Aber wer konnte ihr schon einen Vorwurf machen?, dachte Essie, während sie das hübsche ovale Etikett mit ihren Initialen auf das Seidenpapier klebte, um es an Ort und Stelle zu halten. Da draußen, außerhalb ihrer vier Wände, passierten die furchtbarsten Dinge, und zwar in jeder Minute eines jeden Tages, in den Straßen, auf den Bürgersteigen, auf dem Markt und in der Reinigung.
    Einerseits hätte sie die Familie am liebsten ans Haus gefesselt, alle Türen verschlossen und die Fenster verbarrikadiert. Sie wünschte, sie könnte sie im Haus behalten, wo alle in Sicherheit waren, wo niemandem etwas zustoßen konnte, niemals. Andererseits wusste sie, dass ihr das die Krankheit einflüsterte, die versuchte, sich ihrer noch ein Stück mehr zu bemächtigen.
    Sie legte die Karte mit den Pflegehinweisen für die Tagesdecke bei und schloss die silberne Schachtel. Allmählich beruhigte sie sich wieder. Ihr Blick ging hin und wieder zum Fenster, aber das war nur ein kurzer Test, ein flüchtiger Blick auf die Außenwelt. Sie war froh, dass es regnete. Sie liebte den Regen, wenn es drinnen gemütlich wurde und es vernünftig war, zu Hause zu bleiben.
    Nachdem sie das Geschenk in einen Karton gepackt, mit Styroporkugeln gepolstert, verschlossen und etikettiert hatte, summte sie vor sich hin.
    Sie trug es aus ihrem Zimmer und hielt kurz inne, um einen Blick hinein zu Phoebe zu werfen. Als sie sah, dass ihre Kleine schlief, lächelte sie. Viel Schlaf und Ruhe, das brauchte Phoebe jetzt, um wieder gesund zu werden. Wenn sie wach würde, wollte ihr Essie ein Tablett mit Tee und einer kleinen Mahlzeit bringen. Sie wollte sich zu ihr setzen wie vor all den Jahren, als ihre Tochter mit einer Erkältung oder einem Anflug von Grippe im Bett gelegen war.
    Sie war schon halb die Treppe hinuntergegangen, als es klingelte. Sie zuckte heftig zusammen, ließ ihre rechte Hand sinken. Ihre Beine gaben nach, ihr Herz raste, und sie musste sich auf eine Treppenstufe setzen. Sie umklammerte den Karton wie einen Schutzschild.
    Diese plötzliche Umklammerung der Angst, die ihre kleine weiße Narbe auf der Wange pochen ließ wie eine frische Wunde, war anderen unmöglich zu vermitteln. Aber wenn sie nicht hinging, würde es gleich noch einmal klingeln – da, es klingelte erneut. Davon würde Phoebe aufwachen, und sie musste doch dringend schlafen.
    Wer beschützte ihr kleines Mädchen, wenn sie jetzt weglief und sich versteckte? Sie würde nicht zulassen, dass ihre Angst sie daran hinderte, die Tür zu öffnen, auch wenn sie es nicht schaffen würde, das Haus zu verlassen.
    Sie stand auf, zwang sich zur Tür zu gehen, umklammerte aber nach wie vor den Karton. Vor lauter Erleichterung kam sie sich ganz dumm vor und schämte sich, als sie Duncan auf der anderen Seite erkannte.
    Was für ein netter Junge, dachte Essie, während sie noch einen Moment wartete, einen kurzen Moment, bis sich ihre Atmung wieder beruhigt hatte. Ein anständiger, gut erzogener junger Mann, der ihre Kleine hoch ins Bett getragen hatte.
    Es gab keinen Grund, Angst zu haben.
    Essie ließ den Karton sinken, schloss die Tür auf und schenkte ihm ein strahlendes Lächeln.
    »Duncan! Wie schön, dass Sie vorbeikommen. Und das bei dem Regen und ohne Schirm. Kommen Sie herein!«
    »Warten Sie, ich nehme Ihnen das ab.«
    »Nein, das geht schon, ich wollte ihn sowieso hier abstellen.« Sie drehte ihm den Rücken zu und hoffte, dass er nicht sah, wie ihre Hände zitterten. »Ich habe einen Kurier bestellt. Wie wär’s mit einem Kaffee?«
    »Bitte machen Sie sich keine Umstände. He!« Er nahm ihre Hände, also hatte er es doch bemerkt.
    »Alles in Ordnung?«
    »Ich bin ein bisschen nervös, das ist alles.

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