Im Licht des Vergessens: Roman (German Edition)
der Idiot dem pausbäckigen Kleinkind das Gehirn wegblies. Sie würde keine Verantwortung dafür übernehmen, auch wenn sie es doppelt und dreifach verdient hätte.
Mit seinem Tee setzte er sich an die Werkbank. Er hatte den Notruf über sein Funkgerät mithören können, während er noch beim Frühstück saß. Das hatte seine Stimmung gleich deutlich gehoben. Ein Typ, seine Frau und drei Kinder. Ein solches Blutbad würde großes Aufsehen erregen.
Auf dem Fernseher in seinem Arbeitsraum verfolgte er die Live-Berichterstattung von der Geiselnahme. Er sah, wie Phoebe an den Kameras vorbeilief und die Journalisten auf diese überhebliche, Mann-bin-ich-wichtig -Manier ignorierte.
Er ließ den Fernseher an, während er arbeitete. Normalerweise hatte er hier unten das Funkgerät an, vielleicht noch das Radio. Der Fernseher lenkte ihn zu sehr von seiner Arbeit ab. Aber das hier war eine Ausnahme.
Seine Lippen bildeten einen schmalen Strich, als der Reporter verkündete, die Familie Brinker habe das Haus unversehrt verlassen. Dieses Arschloch hatte sich also friedlich ergeben.
»Da bist du wohl gerade noch mal davongekommen, was?«, murmelte er vor sich hin, während er die Schrauben festzog. Ja, dieser Fall war einfach. Davon geriet man nicht ins Schwitzen. Eine nette Familie in einem netten Viertel. Nur so ein Depp, der auf sich aufmerksam machen will. Diese Krisensituation hast du mal wieder fantastisch entschärft, was, Phoebe ?
Er musste innehalten, sein Werkzeug aus der Hand legen, da seine Finger zitterten vor lauter Wut. Er brauchte jetzt dringend eine Zigarette. Aber er hatte das Rauchen aufgegeben. Das war alles eine Frage des Willens und eine Kosten-Nutzen-Rechnung. Er brauchte keine Krücken, er konnte sich keine Krücken leisten. Er konnte sich nicht einmal diese Wut leisten. Reg dich nicht auf, befahl er sich. Behalte einen kühlen Kopf. War der Zeitpunkt seiner Rache erst mal gekommen, würde er ihn brauchen, einen durchtrainierten Körper und ein klares Ziel vor Augen.
Also schloss er die Augen und zwang sich, wieder ganz ruhig zu werden.
Es war ihre Stimme, die ihn wieder zum Fernseher hinsehen ließ.
»Stuart Brinker hat sich friedlich ergeben. Seine Frau und seine Kinder sind unverletzt.«
»Lieutenant MacNamara, Sie waren die Verhandlerin. Wie haben Sie Professor Brinker dazu gebracht, sich der Polizei zu stellen?«
»Ich habe ihm zugehört.«
Das Glas flog quer durch den Raum und zerschellte am Fernseher, noch bevor er merkte, dass es seine linke Hand verlassen hatte. Daran muss ich noch arbeiten, sagte er sich. Daran, mich besser zu beherrschen. Wenn ich so reizbar bin, bekomme ich die Sache nie geregelt. Nein, Sir. Aber er lächelte über die Teeschlieren auf Phoebes Gesicht. Er stellte sich vor, sie seien Blut.
Weil ihm diese Vorstellung gut tat, konnte er wieder mit ruhiger Hand nach seinem Werkzeug greifen und seine Arbeit an der Zeitschaltuhr fortsetzen.
»Der Fall hat mich mitgenommen. Manche Fälle nehmen mich mehr mit als andere.«
Nach ihrer Schicht saß Phoebe mit Liz auf ein Glas Bier im Swifty’s zusammen. Es war noch zu früh für die Live-musik, deshalb war es in ihrer Nische noch ruhig.
»Wieso?«
Phoebe wollte etwas sagen, schüttelte dann nur den Kopf. »Ich hatte eigentlich nicht vor, über die Arbeit zu reden. Wir sollten uns lieber über Schuhe oder so was unterhalten.«
»Ich hab mir erst vor ein paar Wochen welche gekauft. Und zwar Leopardenpumps. Keine Ahnung, was ich mir dabei gedacht habe. Wo soll ich bloß Leopardenpumps anziehen? Aber bevor wir weiter über Schuhe reden, erzähl mir von diesem Vorfall. Ich weiß, wie das ist«, fuhr Liz fort. »Ich spreche mit vielen Vergewaltigungsopfern, mit vielen sexuell missbrauchten Kindern. Und manchmal nimmt mich das besonders stark mit. Dann muss man drüber reden, sonst bekommt man diese Fälle nicht mehr aus dem Kopf. Also?«
»Die Kinder. Man muss versuchen, sie nicht als Kinder, sondern nur als Geiseln zu sehen. Aber …«
»Es sind nun mal Kinder.«
»Ja. Und in diesem Fall konnte ich sie benutzen, um ihn zum Aufgeben zu bringen. Er hat sie geliebt. Das konnte man hören.«
»Aber wie kann jemand ausgerechnet die Menschen, die er am allermeisten liebt, mit der Waffe bedrohen?«
»Wenn etwas in ihm kaputtgegangen ist. Irgendetwas in ihm ist kaputtgegangen. Er war nicht außer sich, er war kein bisschen wütend. Er wollte sich auch nicht rächen oder sie bestrafen. Die Situation ist oft unberechenbarer,
Weitere Kostenlose Bücher