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Im Licht von Apfelbäumen | Roman

Im Licht von Apfelbäumen | Roman

Titel: Im Licht von Apfelbäumen | Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amanda Coplin
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für sie ein Prüfstein war, las sie ab, ja
erkannte
sie, dass das Gewehr Della gehört hatte.
    Es ist ihr Gewehr, nicht wahr?, fragte sie Talmadge zwei Tage nach ihrem Geburtstag, als sie wieder allein auf der Plantage waren.
    Er saß bei angezündeter Laterne – es war nach dem Abendessen – am Tisch und putzte seine Stiefel. Zwei Tage später wollte er wieder nach Chelan aufbrechen.
    Ja, sagte er und legte die zur Faust geschlossene Hand, in der er den Lappen hielt, auf den Tisch.
    Sie stand vor ihm.
    Bist du böse?, fragte er.
    Nein …
    Sie hielten beide still; jeder wartete darauf, dass der andere loslegen würde, mit Vorwürfen und Anklagen oder mit Entschuldigungen und Erklärungen.
    Angelene wusste in dem Moment nicht, ob sie böse war oder nicht. Sie war beeindruckt von dem Gewehr, von seiner Pracht und auch von der Tatsache – und hier unterschied sie sich von anderen Mädchen ihres Alters –, dass es nicht brandneu war. Das Holz hatte eine feine Patina, und genau das gefiel Angelene: seine abgenutzte Schönheit. Gegenüber denen, die es benutzt hatten, als Erste Della, empfand sie hilflose Wut, aber auch – sie gab es ungern zu – eine gewisse zärtliche Faszination: die junge Della, jene Della, an die sie sich erinnerte und die es auf ihren frühen Exkursionen in den Bergen bei sich gehabt hatte. Wider Willen gefiel ihr auch das.
    Aber Talmadge hatte ihr nichts von alledem erklärt. Die dazugehörige Geschichte schien ein Teil des Geschenks zu sein, doch er hatte es durch noch mehr Schweigen verdorben.
    Dieser Wunsch – alles zu besitzen, den Gegenstand ebenso wie seine Geschichte – war ihr allerdings selbst nicht bewusst, sondern sie merkte nur, dass sie verstört und unzufrieden war.
    Es tut mir leid, sagte er. Gefällt es dir nicht?
    Doch …
    Dann, eine Minute später: Es ist sehr schön. Ich finde es wunderbar. Aber … ich wünschte …
    Und was wünschte sie?
    Ich wünschte … du würdest mir von ihr erzählen.
    Sie erschrak über das, was sie da gesagt hatte, denn sie glaubte nicht, dass sie es so meinte. Sie wollte nichts über Della erfahren, nichts von ihr wissen. Hatte das vielleicht nur gesagt, um zu hören, wie es klang. Mehr nicht.
    Talmadge blickte in eine Ecke des Zimmers. Er wirkte ähnlich verstört wie sie.
    Ach, ich weiß auch nicht!, rief sie. Du bist so … schweigsam, was das betrifft! Du erzählst mir nichts! Und Caroline Middey auch nicht! Oder nicht alles. Da ist irgendetwas, das du mir verschweigst, und ich weiß nicht, was …
    Sie breitete die Arme aus, als wollte sie all das, was sie nicht sagen konnte, all das, was sie nicht verstand, in die Luft formen.
    Er sah sie an, und sofort empfand sie Reue. Sie ließ die Arme sinken. Sie bedauerte, dass sie aus ihrem Zimmer gekommen war – schließlich war es nur eine Laune gewesen –, um mit ihm zu sprechen.
    Sein Gesicht drückte unermessliche Traurigkeit aus.

    Frederick trat dicht an das Gitter und sagte, Michaelson sei bereit, mit ihr zu sprechen, falls sie das immer noch wolle. Er würde kommen und am Abend nach dem Ausschalten der Lichter hier an ihrem Gitter stehen; dann könne sie ihm sagen, was sie zu sagen habe.
    Lassen Sie mich zu ihm gehen, sagte sie. Ich möchte
ihn
in
seiner
Zelle besuchen.
    Frederick traute seinen Ohren kaum. Er schob die Mütze nach hinten, zog sie wieder in die Stirn. Lachte kurz. Sie sind verrückt, sagte er.

    Angelene betrat den Canyon. Betrat den oberen Obstgarten. Bei der Biegung des Pfades, hatte er gesagt. Es war Nachmittag, und der Pfad war hell. Der Rest des Obstgartens lag im Schatten der vorspringenden Canyonwand, doch in diesen Teil drang noch Tageslicht. Und dann machte der Weg eine Kurve, und sie konnte den Baum sehen, von dem er gesprochen hatte. Sah ihn und schaute weg. Nach einer Weile schaute sie wieder hin.
    Wie oft hatte sie diesen Baum schon gesehen? Noch kein einziges Mal so wie jetzt. Sie stellte sich direkt davor. Halb bewusst hatte sie ihr Leben lang über seine Größe gestaunt und dass er dort stand wie ein Wachposten, der die Wegbiegung sicherte. Jenseits der Biegung führte der Weg – wohin? Sie war ihm nie gefolgt, kein einziges Mal. Das wunderte sie plötzlich. Wo endete er? Sie würde Talmadge fragen. Nein, besser noch – sie würde es selbst herausfinden.
    Aber jetzt betrachtete sie den Baum. Wie kam man auf einen solchen Baum hinauf? Sie trat näher an den Stamm heran und musterte die Borke. Eine Galaxie aus Ritzen und Rinnen.

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