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Im Licht von Apfelbäumen | Roman

Im Licht von Apfelbäumen | Roman

Titel: Im Licht von Apfelbäumen | Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amanda Coplin
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Glänzende, poröse, faserige Rinde. Sie blickte hoch. Der nächste Zweig befand sich in ungefähr fünfzehn Fuß Höhe. Sie suchte den Boden ab, als könnte sich dort irgendeinen Hinweis finden, wie ihre Mutter auf den Baum bekommen war; als hätte irgendein Zeichen all die Jahre darauf gewartet, dass sie es entdeckte. Natürlich fand sie nichts. Sie ging langsam um den Baum herum und betrachtete ihn aus verschiedenen Blickwinkeln.
    Jane musste auf dem Ast da oben gesessen haben. Und Della dort, ein Stück weiter unten. Es war nicht schwer, sich die beiden Mädchen mit baumelnden Beinen vorzustellen, ihre selbst gemachten Schlingen um den Hals. Wie bei einem Spiel. Und dann sagte das Mädchen, das links saß – ihre Mutter Jane –, zu dem anderen Mädchen: Die Männer kommen. Ich mache es. Los – und sprang. Die Sekunden davor, das Gespräch, das dem Sprung vorausging, waren nicht schwer vorstellbar. Doch der Augenblick selbst – ihr Sprung, das Seil, das sich mitten in der Luft zwischen ihr und dem Baum straffte – umso mehr. Wie kam ein Mädchen auf einen Baum wie diesen hinauf und bereitete dabei noch seinen eigenen Tod vor? Woher hatte es das Seil? Wie hatte es die Schlinge geknotet? Woher wusste es, dass es funktionieren würde?
    Aber schwerer vorstellbar – noch schwerer als der in der Luft baumelnde Körper ihrer Mutter –, war für Angelene, dass alles, was sonst geschehen wäre, für das Mädchen beängstigender gewesen sein musste als der Gedanke, sich zu erhängen. Das war es, was Angelene nicht begreifen konnte.
    Sie dachte an Della. An Della, die überlebt hatte und also gezögert haben musste; die zugesehen hatte, wie ihre Schwester sprang, und noch einen Moment auf dem Ast sitzen geblieben war. Warum hatte sie nicht so große Angst gehabt wie Angelenes Mutter? Was hatten die beiden erlebt, dass Della auf dieser Welt bleiben wollte und die andere nicht? Dabei hatte Jane doch ein Kind gehabt, dachte Angelene. Sie hatte gerade ein Kind geboren, das lebte. Während diejenige, die zögerte, der das Leben irgendwie lebenswert erschien, den furchtbaren Verlust von zwei in ihr heranwachsenden Kindern erlitten hatte. Und trotzdem war sie es, und nicht die andere, die gezögert hatte.
    Und am Ende, dachte Angelene, als sie in den Baum hinaufschaute, war Della doch gesprungen. Irgendetwas hatte sie schließlich dazu bewogen. Vielleicht ihre mit dem Tod ringende Schwester. Vielleicht die Verzweiflung und das Begreifen dessen, was da gerade geschah. Vielleicht das.
    Angelene fand keine Möglichkeit, auf den Baum zu klettern. Und so kehrte sie zur Hütte zurück, um eine Leiter zu holen.
     
    Michaelson stand jetzt vor ihrem Gitter. In der Dunkelheit konnte Della seine Gesichtszüge kaum ausmachen. An seiner Silhouette erkannte sie, dass er sich wieder die Seite hielt. Zehn Minuten, nachdem die Lichter gelöscht wurden, hatte sie ihn den Flur entlangschlurfen hören; Frederick war bei ihm gewesen, doch dann hatte er sie allein gelassen. Sie machen besser keine Dummheiten, hatte er zu Della gesagt, bevor er ging, todernst jetzt. Ich tu Ihnen hier einen Gefallen. Sie nehmen sich besser zusammen.
    Sie sagte nichts.
    Michaelson stand in der Dunkelheit, reglos wie eine Statue.
    Was willst du?, fragte er schließlich. Seine Stimme war tief und rau, fast nur ein Nuscheln.
    Irgendetwas zog sie gegen ihren Willen zum Gitter. Sie klammerte sich daran fest, drückte sich dagegen, um ihm so nah wie möglich zu kommen. Sie versuchte, seinen Geruch wahrzunehmen, doch vergeblich; er roch nach nichts.
    Kommen Sie näher, sagte sie. Aber er rührte sich nicht.
    Was willst du, fragte er wieder.
    Wissen Sie, wer ich bin?
    Erneut schwieg er. Doch dann seufzte er.
    Es gibt so viele von euch.
    Dann war es still.
    Ich bin Della, sagte sie. Della Michaelson. Als er nichts sagte, fügte sie hinzu: Ich bin nach Ihnen benannt. Sie haben mir Ihren Namen gegeben! Ich kann mich gar nicht an meinen eigenen Namen erinnern!
    Er bewegte sich ein wenig. So habe ich das eben gemacht, sagte er. Er seufzte wieder. Weil es die Dinge vereinfachte. Aber … das ist jetzt vorbei. Ich bin nicht mehr der Mensch von damals. Ich habe mich verändert. Weißt du nicht, dass es möglich ist, sich zu verändern?
    Darauf hatte sie, unbewusst, gewartet: auf den alten, vertrauten Ton der Selbstgerechtigkeit. Er hatte ihn perfekt getroffen. Sie packte die Stäbe noch fester und zog sich daran hoch, sodass sich ihre Füße fast vom Boden hoben. Ihre

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