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Im Licht von Apfelbäumen | Roman

Im Licht von Apfelbäumen | Roman

Titel: Im Licht von Apfelbäumen | Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amanda Coplin
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Leben – aber spielte Zeit in Herzensangelegenheiten wirklich eine Rolle? – den Impuls gehabt habe, andere weibliche Personen zu beschützen. Ähnlich wie man es Della Michaelson nicht verdenken könne, dass sie ihren Peiniger habe bestrafen wollen, müsse man auch Talmadge verstehen und seinen Wunsch, sie zu retten. So einfach sei das.
    Fieberhaft wurden die Geschichten zwischen den Reportern ausgetauscht und anschließend natürlich zwischen den Lesern – jenen, die von auswärts nach Chelan kamen, um den Verhandlungen beizuwohnen, aber auch den Leuten aus Cashmere, Leavenworth und Peshastin, die auf diese oder jene Weise mit Talmadge, Angelene und sogar Caroline Middey bekannt waren. Alle Klassenkameraden von Angelene und deren Eltern, die staunend und kopfschüttelnd die Zeitung lasen. Unmöglich zu sagen, wie viele von ihnen der Meinung waren, sie hätten es nicht anders verdient – wer sich mit Gesindel abgibt, hat selber Schuld, wurde groteskerweise jemand aus Leavenworth zitiert –, und wie viele voller Entsetzen mit ihnen litten. Es war ein Pech, dass es sich letztlich als leichter und unterhaltsamer erwies, zu tratschen und bösartige Mutmaßungen zu nähren, als in dem Wissen, dass die wahre Geschichte nie erzählt, nie richtig in Worte gefasst werden kann, zu schweigen.
    Talmadge saß niedergeschlagen und mit verständnisloser Miene in Dellas Gerichtsverhandlung. Die gut gehüteten Geheimnisse seines Lebens waren preisgegeben und in den Zeitungen breitgetreten, seine privaten Angelegenheiten vor aller Welt ausgebreitet worden. Es schien, als wäre nichts mehr vertraulich, nichts mehr heilig.
    Aufgrund der großartigen Porträts, die von Talmadge und Della, ihrer Vergangenheit und ihrer Gefühlslage gezeichnet wurden, sympathisierten viele Leute mit ihnen. Was sie getan hatten, mochte nicht richtig sein, aber man konnte ohne Weiteres verstehen, warum sie so gehandelt hatten.
    Es gab andere, die einen kühlen Kopf behielten und schließlich zu dem Urteil gelangten, dass gegen das Gesetz verstoßen worden sei und die privaten Gründe für das Verhalten der Angeklagten letzten Endes keine Rolle spielen dürften. Wenn Talmadge zu viel an dem Mädchen gelegen habe, hätte er sie nicht adoptieren sollen. Und was für eine absurde Logik, meinten sie, eine Lüge im Grunde, dass Della keine andere Wahl gehabt habe, als Michaelson zu bestrafen. Natürlich hätte sie sich anders entscheiden können. Wir alle können uns so oder so entscheiden, meinten sie. Diese Leute waren erstaunt, wie viel Druckerschwärze für die Gefühle der beteiligten Leute aufgewendet, ja verschwendet wurde. Als ob Gefühle letztlich überhaupt ausschlaggebend wären.

    Caroline Middey und Angelene durften Talmadge nach seiner Operation besuchen. Caroline Middey stand dabei, während eine Krankenschwester ihn wusch; Angelene entschuldigte sich und wartete draußen auf dem Gang.
    Talmadge weinte leise, vielleicht vor Verlegenheit, vielleicht einfach überwältigt. Caroline Middey schürzte missmutig die Lippen. Ist ja
gut,
sagte sie, als die Schwester gegangen war und sie, Caroline Middey, ihm die Schlafanzugjacke zuknöpfte, ihm wieder ins Bett half und ihn zudeckte. Er hatte die Augen geschlossen, weinte aber immer noch. Caroline Middey saß neben ihm. Hielt seine Hand.
    Es ist meine Schuld, sagte er.
    Nein, sagte Caroline Middey.
Nein.
    Kurz darauf war er eingeschlafen.

    Am Tag, als Della verlegt wurde, zwei Wochen nach ihrer Verurteilung und fast einen Monat nach dem Fluchtversuch, machten Caroline Middey und Angelene sich auf den Weg zum Amtsgericht. Vor dem Gebäude hatte sich schon eine Menschenmenge versammelt. Plötzlich wurde ihnen klar, dass Leute von der Zeitung da sein und sie ansprechen würden – Dellas Angehörige. Also führte Caroline Middey Angelene in das Wirtshaus gegenüber, wo sie das Gericht im Blick hatten.
    Dieses Pack, sagte Caroline Middey.
    Als ein Wärter oben an die Treppe trat und zu den Leuten sprach, die auf dem Rasen warteten, gingen auch Caroline Middey und Angelene wieder hinaus.
    Die Leute ließen sie bis nach vorne durch. Schweigen kehrte ein, als Della herausgeführt wurde. Aus irgendeinem Grund hatte Angelene gedacht, es würde laut gerufen oder gejubelt werden, doch es war ganz still.
    Della wurde von zwei Wärtern flankiert. Sie blinzelte. Sie und die Wärter gingen die Treppe hinunter und auf den Gefangenenwagen zu, der ein kleines Stück entfernt stand.
    Della!, rief Caroline Middey

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