Im Licht von Apfelbäumen | Roman
nirgends aufgehängt? Wenn er darauf zeigen würde –
Das bin ich, das ist meine Mutter, das meine Schwester
–, kämen sicher weitere Fragen, solche, deren Beantwortung ihn überforderte.
Wo ist deine Schwester jetzt, Talmadge?
Er würde lügen, ohne große Bedenken – das Kind war zu klein, um das Verschwinden eines anderen Mädchens zu begreifen. Es wäre grausam, ihrer Fantasie eine solche Geschichte einzugeben. Vielleicht würde er ihr später davon erzählen. Viel später, wenn sie erwachsen war.
Doch die Sache war die: Er glaubte nicht, dass sie je erwachsen werden würde. Er beobachtete sie und dachte: Wie wird jemand, der so klein und auf seine Weise so vollkommen ist, erwachsen? Wenn er das Mädchen stets im Auge behielt, würde die Veränderung nie stattfinden; denn wie sollte das so schnell gehen? Darauf gab es nur eine Antwort: Gar nicht. Andererseits hatte sie sich schon so sehr verändert …
Außerdem – aber darüber mochte er nicht nachdenken – wollte er keine schlafenden Hunde wecken, was Angelenes eigene Mutter betraf. Wenn das Mädchen fragte, so hatten er und Caroline Middey sich geeinigt, würden sie ihr erzählen, dass ihre Mutter an einer Krankheit gestorben sei. Jane und Della seien aus dem Wald zu Talmadge gekommen, Jane sei schwanger gewesen; sie habe sie zur Welt gebracht und sei gestorben. Della habe die Plantage aus eigenem Antrieb verlassen, sie habe nicht bleiben wollen und sei fortgegangen. Aber darüber hinaus Dellas Charakter zu beschreiben – zu erklären, wie sie Angelene stillschweigend in Talmadges Obhut hatte lassen können und warum sie nicht mehr zu Besuch kam –, das überstieg seine Kräfte. Gleichviel, es war noch Jahre hin, bis eine solche Erklärung von ihm verlangt werden würde. Das hoffte er jedenfalls.
Doch das Mädchen hatte erstaunlicherweise noch nicht nach seiner Mutter gefragt. Sie nahm das Miteinander mancher Frauen und ihrer Kinder in der Stadt durchaus wahr, glaubte jedoch, soweit er es beurteilen konnte, dass einige Menschen Mütter hatten so wie andere Geschwister: zufällig, aber nicht zwangsläufig. Er schämte sich dafür, dass er sie warten ließ, auf den großen Berg der Verwirrung zählte, der sich würde auftürmen müssen, bevor sie das erste, zaghafte Gespräch anfing. Es schmerzte ihn, daran zu denken.
Doch er wollte sie auch nicht verstören. Ihr so lange wie möglich eine unbeschwerte Kindheit lassen …
Eine Woche später, als Angelene und Talmadge in der Stadt waren, ließen sie sich im Studio eines Porträtisten fotografieren. Es war eine Überraschung für das Mädchen. Im Hinterzimmer hing ein fliederfarbenes Kleid, das Angelene anziehen sollte. Caroline Middey hatte Talmadge geholfen, es auszusuchen. Als Angelene in diesem Kleid zu ihnen hinauskam, konnte sie sehen, wie sehr es ihm gefiel. Auch er hatte sich feingemacht, trug einen schicken Cowboyhut. Er griff nach ihrer Hand.
Entzückend, sagte der Fotograf immer wieder. Entzückend.
Della ließ sich über dem Pferderücken herunter, ohne ihn zu berühren, indem sie sich am Gerüst über der Gasse festhielt – beide Männer, einer auf jeder Seite, fragten: Alles klar?, und prüften, ob das Pferd auch nicht in der Gasse feststeckte oder sonst irgendein Hindernis es davon abhalten würde, mit voller Kraft loszustürmen, sobald es freigelassen wurde. In dem Moment, da das Brett am anderen Ende der Box hochging, würde Della sich auf den Pferderücken fallen lassen, fortgerissen werden und binnen Sekunden in die Arena preschen.
Sowohl Clee als auch der Cowboy missbilligten dieses Spektakel und hatten versucht, sie davon abzubringen. Doch am Ende hatten sie keine Macht über das, was sie tat; sie standen nur dabei und sahen zu wie der Rest. Abgestoßen. Clee mit verkrampftem Kiefer.
Auch die Zuschauer fanden diese Art von Auftritt weniger spannend als zutiefst beunruhigend. Erst im vergangenen Jahr hatte sich ein Rodeoreiter in der Tiefe der Gasse auf einen Stier gesetzt und war zu Tode getrampelt worden, ehe das Tier überhaupt die Arena erreichte. Es war unnötig gefährlich, denn immer kam der Moment, in dem die Gasse zu lang schien und Della glaubte, abgeworfen zu werden. Genau diese Angst, diese Gewissheit, dass sie scheitern, ja sterben würde, trieb sie dazu, es zu machen. Aus irgendeinem Grund – über den sie lieber nicht genauer nachdachte – sehnte sie sich nach diesem Gefühl der Verzweiflung.
Jetzt, in der Gasse, als sie über dem
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