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Im Licht von Apfelbäumen | Roman

Im Licht von Apfelbäumen | Roman

Titel: Im Licht von Apfelbäumen | Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amanda Coplin
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das Foto in ihre Brusttasche. Nach ein paar Minuten, als nichts auf dem Jahrmarkt mehr ihre Aufmerksamkeit erregte – und sie hatte Hunger, fand aber keinen Essensstand –, kehrte sie zum Lager zurück.
    Als sie Clee an diesem Abend beobachtete, der sich bei den Vorbereitungen fürs Essen um das Feuer herum zu schaffen machte, fragte sie sich, wie er wohl auf einer Fotografie aussehen würde. Er war groß und massig gebaut; sein quadratischer Schädel würde den ganzen Rahmen ausfüllen, dachte sie, denn sie begriff nicht, wie eine Kamera funktionierte, wusste nicht, dass man die Linse verstellen konnte. Er hatte sein Haar zu einer Schmalzlocke und Zöpfen frisiert, wie viele Männer der Nez Perce zu jener Zeit. Seine Augen verschwanden unter schweren Lidern, und er hatte hohe, weit auseinanderstehende Wangenknochen. Er trug ein dunkles Wollhemd, eine Jacke mit Fransen vorne und eine Perlenkette mit Medaillon unter dem Hemd. Außerdem ein Skapulier – so nannte man das, aber das wusste sie damals nicht.
    Sie dachte über diese nie gemachte Fotografie von ihm nach. Später am Abend, als sie in ihrem Schlafsack lag, ihr Foto herausnahm und es im Feuerschein betrachtete – ihr eigenes kleines, blasses, erschrockenes Bild –, stellte sie sich jenes unsichtbare Gegenstück daneben vor, das ihm Substanz und Gewicht verlieh.

    Angelene saß auf Talmadges Schultern:
Ich bin die Königin der Plantage!
Sie sangen während der Arbeit, alberne Lieder, die er kannte, auch Kirchenlieder. Ihre Stimmen in den Bäumen. Sein gedankenverlorenes Pfeifen. Der Singsang, dann und wann, wenn Angelene eine Frage stellte.

    In der Herde reiten, das Geräusch wie ein einziger, endloser Seufzer; manche Pferde panisch, andere ruhig, manche verfolgt von der Erinnerung an Leid, das ihnen angetan worden war, während andere nur schlafen wollten, und jedes für sich mit Hunger und Durst kämpfend; manche Pferde trächtig, andere scharf darauf zu kopulieren; alle zusammen wie ein Körper in Hitze und Staub vorwärtsdrängend. Die Männer und Della zwischen ihnen verstreut und gefangen wie Ornamente auf einer Decke; wie widerstreitende Gedanken, die nach Zusammenhang streben. Das Gefühl, dass dies niemals aufhören würde, in der Herde gefangen zu sein, zu einem bestimmten Zweck nach Osten oder Norden, Westen oder Süden zu reiten, auch wenn dieser Zweck in dem Moment keine Rolle spielte; und dass die Herde die Männer trug, mehr als dass diese die Pferde lenkten. Die Männer waren an die Zeit gebunden, sie mussten die nächste Auktion am selben Abend oder am folgenden Tag erreichen, und doch war dieses Reiten durch die Landschaft inmitten der Pferde endlos und zeitlos. Manche Männer, nicht die Reiter, sondern solche, die woanders lebten und andere Berufe ausübten, machte das sehnsüchtig; auch Della knickte ein unter der erdrückenden Last der Zeit, der Entfernung – denn es war kein Zuwenig, was man zwischen zwei Orten erlebte, sondern ein Zuviel –, und obwohl sie bisweilen meinte, sich wegen dieser Last nicht rühren zu können, fühlte sie sich auch aufgehoben. Versteckt. Sicher.

    Angelene hockte in Talmadges Schrank zwischen den an der Stange hängenden Flanellhemden. In der Ecke, auf zwei Kisten voller Kristallgeschirr – Talmadge hatte sie auf einem Jahrmarkt entdeckt und war sicher, dass sie viel wert waren –, stand eine geöffnete Kiste. Sie griff hinein.
    Sie glaubte nicht, dass es ihr verboten war, hier zu sein – sie ging in seinem Zimmer ein und aus, als wäre es ihr eigenes, und oft, an Samstagen, machte sie dort sauber –, ja, sie glaubte noch nicht einmal, dass sie dafür ausgeschimpft werden würde. Ein paar Mal, als er sie zum Essen rief, hatte er sie hier gefunden, zwischen seinen Hemden versteckt, ein Spiel. Aber sie wusste nicht, was er sagen würde, wenn sie ohne seine Erlaubnis den Inhalt der Kisten durchwühlte, die Sachen herausnahm. Sie tat es trotzdem, denn sie spürte, dass er ihr nie ernsthaft böse sein würde. Und wo war er jetzt, da ihre Finger sich um einen Gegenstand legten, glatt – Glas? –, in Gingan gehüllt? Er war draußen in den Obstgärten bei der Arbeit oder schlief auf der Veranda. Irgendwann später würde er sie, wenn er zur Stadt fuhr, auf der Plantage allein lassen. Aber jetzt war sie noch zu jung dafür, gerade mal acht Jahre alt.
    Sie war mit Talmadges Kisten vertraut. Da waren die Kisten mit Glasgeschirr und die mit alten Almanachen und Zeitungen, Zeitschriften,

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