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Im Licht von Apfelbäumen | Roman

Im Licht von Apfelbäumen | Roman

Titel: Im Licht von Apfelbäumen | Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amanda Coplin
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zurückkehrte. Wie ein Hund zu seinem Erbrochenen.
     
    Bevor sie Arbeit in dem Holzfällerlager gefunden hatte, war sie für kurze Zeit mit einem Mann unterwegs gewesen. Sie hatte ihn in der Konservenfabrik kennengelernt, wo er die Böden wischte. Er war sehr groß und schlank, hatte ein langes Gesicht, haselnussbraune Augen – eins war aus Glas, etwas größer und grüner, runder als das andere – und zwischen den Lippen eine ewige dünne, selbstgedrehte Zigarette. Anfangs machte er keinen Versuch, mit ihr zu reden, aber sie sah ihn jeden Morgen, wenn ihre Schicht endete und er zur Arbeit kam. Die langen, langsamen Bewegungen, mit denen er den Wischlappen über den Boden schob.
    In ihrem ersten Gespräch redeten sie über den widerwärtigen Geruch von Fischgedärm. Dringt überall rein, sagte er. In die Haare, die Klamotten. Manchmal hab ich das Gefühl, ich
selbst
rieche danach. Er schnupperte an seinem Arm.
    Ich hau hier ab, sagte er eines Tages. Sie war sich nicht mal sicher, ob er mit ihr sprach; allerdings war außer ihnen niemand in der Garderobe. Sie nickte. Aus purer Neugier fragte sie: Wohin? Nach Norden, sagte er. Vielleicht nach Seattle. Jedenfalls ins Binnenland.
    Das genügte ihr. Sie war es leid, in der Fabrik zu arbeiten. Und wenn sie einmal wegging, das wusste sie, dann würde sie nie wieder herkommen.
    Ihr Instinkt trog sie nicht: Der Mann war harmlos. Sie hatte nicht vor, lange mit ihm zu reisen, doch aus irgendeinem Grund fand sie es nicht unangenehm, ihn ein kleines Stück zu begleiten – er hatte ein Maultier und einen Karren mit seinen paar Habseligkeiten darin, während sie auf einem Pferd ritt.
    Eines Abends saßen sie am Feuer, und er erzählte ihr von seiner Zeit in Oklahoma und Texas, von den Menschen und Tieren, die ihm unterwegs begegnet waren. Er habe nicht mit Pferden gearbeitet, sie aber versorgt, zumeist sei er in größeren Viehwirtschaftsbetrieben als Koch beschäftigt gewesen. Er erzählte ihr von Rüsselkäfern, Sandstürmen und Skorpionen. Ob sie schon mal einen Skorpion gesehen habe? Er habe mal einen getötet – es sei das Befriedigendste gewesen, was er je getan habe –, mit einem Stück Zinn, das er dem Tier einfach in den Bauch gestochen habe, während es schlief. Ich bin nicht fürs Töten, sagte er. Aber bei diesem Skorpion hatte ich keine Skrupel.
    In der Nacht träumte sie, dass jemand Michaelson die Kehle durchgeschnitten hätte. Er kniete am Boden, eine Kette aus Blut um den Hals. Als er den Kopf hob – und dort oben eine scheußliche Fratze in den Bäumen oder vielleicht auch den sternenhellen Himmel sah –, fiel sein Kopf, fast abgetrennt, zu weit nach hinten, sodass sein Hals ein bluttriefender Stumpf war. Im Traum war sie bewegt, erschrocken. Entsetzt.

    Im November hatten sie alle Hände voll zu tun. Angelene half Talmadge in den Apfelgärten, und abends lernte sie am Küchentisch, während er in seinem Stuhl in der Ecke döste. Er wirkte müder als sonst, dachte sie.

    Della träumte von Kälte, von Schnee. Und dann merkte sie, dass sie wach war.
    Sie hatte keinen Hunger mehr. Wenn man die Kälte akzeptierte, störte sie einen nicht. Dann war einem sogar warm.
    Manchmal lief sie, manchmal lag sie auf dem Rücken und blickte in die Sonne, die in dem bedeckten, grünlichen Himmel ganz nah und gedämpft wirkte.
    Von überall her schien Gelächter zu kommen. Und dann hörte sie ein Weinen – schreckliches, schreckliches Weinen –, und ihr wurde angst.
     
    Kaffee?, fragte Angelene und stand vom Tisch auf.
    Sie waren gerade mit dem Weihnachtsessen fertig: Kaninchen in Kastanienbutter mit Salbei, Blatt- und Rosenkohl, Kürbismus mit Rosinen, Zwiebelbrot. In Weinbrand gedünstete Äpfel. Pflaumenkuchen.
    Ich könnte nicht den kleinsten Krümel mehr essen, sagte Caroline Middey. Aber Kaffee würden sie trotz der späten Stunde noch trinken. Er wirkte bei ihnen nicht wie bei anderen.
    Talmadge, der auf seinem Stuhl in der Ecke saß, war eingeschlafen. Caroline Middey blickte zu ihm hinüber und grinste. Sie saß am Tisch und winkte das Mädchen zu sich. Der Kaffee dampfte vor ihnen. Caroline Middey öffnete ein Paket mit den Materialien für eine Kreuzstich-Stickerei, das sie für Angelene gekauft hatte, aber sie fürchtete, es könnte noch zu schwierig sein. Sie breitete die Anleitung auf dem Tisch aus und strich sie mit den Handflächen glatt. Räusperte sich. Ein paar Minuten verstrichen, ohne dass eine von ihnen etwas sagte.
    Na, das sieht doch

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