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Im Licht von Apfelbäumen | Roman

Im Licht von Apfelbäumen | Roman

Titel: Im Licht von Apfelbäumen | Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amanda Coplin
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sinnlos.
    Und doch konnte sie ihn nicht vergessen. Jenen seltsamen Ausdruck von Schmerz, als er die Straße hinunterging. Wenn sie ihm in den Weg träte, würde er sie wiedererkennen? Was würde sie zu ihm sagen? Er zu ihr? Und wie würde sie auf ihn reagieren?
    Sie lag im Dunkeln auf einem Schlafsack. Zum Denken hätte ihr zu kalt sein müssen, doch bei halbem Bewusstsein rief sie sich all das Unzählige ins Gedächtnis, was sie ihm gegenüber je empfunden hatte. Angst – aber das war zu erwarten. Er hatte die Macht: Und wie bei Gott, von dem sie manchmal hörten, waren die Gründe seines Tuns oft unerforschlich. Als Jane und Della neu auf seinem Gehöft waren, bekamen sie von den anderen Mädchen viel erzählt: dass Michaelson manchmal nichts weiter wolle als schlafen; bestimmte Gerichte essen, die für ihn zubereitet wurden, und im Garten still in einem Stuhl liegen, die Sonne auf den Gliedern; oder eine halbe Meile entfernt im Bach stehen, manchmal stundenlang, und seinen Gedanken nachhängen. Oder er verbringe die Tage allein im Bett. Er habe seine Lieblinge, nach denen er während dieser ruhigen Phasen zuweilen schicke. Sie würden hergerichtet und zu ihm gebracht. In seinem Zimmer schlafe das jeweilige Mädchen dann bei ihm, singe Lieder, lese ihm, wenn sie es könne, aus Büchern vor oder liebe ihn. Doch meistens, wenn er in dieser Verfassung sei, wolle er nicht lieben, sondern brauche nur die Anwesenheit eines anderen Menschen im Zimmer. Es gab Gerüchte: Einmal habe ein Mädchen einem anderen mit der Nadel in die Handfläche stechen müssen, ein andermal sollte eins dem anderen das glühende Ende einer Zigarre in die Armbeuge drücken. Doch meistens sitze das Mädchen, das er gerade ausgewählt habe, nur neben ihm auf dem Bett und berühre seinen Kopf und leiste ihm Gesellschaft, während er schlafe.
    Die Zeiten, für die sie – die Mädchen – sich wappneten, waren die, wenn das Feuer in seinem Blut loderte – wenn er nicht schlief, sondern im Haus herumlief und nach draußen rannte, als wären wilde Hunde hinter ihm her. Das waren die Zeiten seiner Projekte und Pläne, großer häuslicher Feste, zu denen ganze Gruppen von Männern herbeiströmten und die Mädchen sich ihre Kostüme anzogen und es Musik gab und Alkohol und Tanz. Und wenn sein Hof ihm nicht mehr reichte, zog Michaelson mit ein paar von seinen Männern los und blieb zwei, drei Tage fort, manchmal länger. Häufig machten sie sich dann auf die Suche nach einem Mädchen, das weggelaufen war, wann, spielte keine Rolle: Michaelsons Blut trieb ihn bisweilen dazu, nach einem Mädchen zu fahnden – die ganze Gegend nach ihm auf den Kopf zu stellen –, das fünf Jahre zuvor verschwunden war. Wenn die Männer aufbrachen, übernahm eins der Mädchen das Sagen, Ellie. Sie war außerdem noch die Köchin und zuständig für die Krankenstation. Normalerweise war sie nicht bösartig, doch einmal peitschte sie ein Mädchen wund, weil es in Michaelsons Abwesenheit zu fliehen versucht hatte. Ellie war fünfzehn, doch Della kam sie wie eine Frau mittleren Alters vor.
    Michaelson hatte in Della nie etwas Besonderes gesehen – er betrachtete oder behandelte sie nicht anders als die anderen Mädchen –, doch Jane war einer seiner Lieblinge. Was macht er?, wollte Della wissen, wenn er Jane allein mit in sein Zimmer nahm. Er will, dass ich mit ihm rede, sagte Jane. Das ist alles. Was erzählst du ihm?, fragte Della. Jane zuckte die Achseln. Irgendwas, sagte sie, ich denk mir etwas aus. Della fand das lustig, dann beunruhigend. Was, wenn Michaelson herausfand, dass Jane log? Doch alles in allem schien es in Ordnung so: Wenn Michaelson sie für sich selbst haben und ihr bloß beim Reden zuhören wollte, bewahrte sie das vor den anderen Männern, denen Reden nicht genügt hätte. Und so beschloss Della, für Michaelsons Aufmerksamkeit dankbar zu sein.
    Doch dann, als Jane sich eines Tages auszog, sah Della – ganz kurz – eine Reihe kreisrunder Quaddeln an der Innenseite von Janes Oberschenkeln. Sie waren entzündet, tiefrot, geschwollen. Was ist das?, fragte sie, obwohl ihr Herz schon zu pochen begonnen hatte, weil sie wusste, was es war: Sie hatte ähnliche Flecken bei anderen Mädchen gesehen. Zigarrenbrandwunden. Und dann traute Della ihren Ohren nicht: Jane log sie an. Insektenstiche, sagte sie, und ihre Augen blieben leicht gesenkt. Das sind keine Insektenstiche, sagte Della. Das sind Brandwunden. Aber Jane antwortete nicht, und Dellas Herz

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