Im Meer schwimmen Krokodile
aber es ist so –, doch ich hatte bereits davon gekostet, und es schmeckte wirklich hervorragend. So lecker, dass es einfach keine Sünde sein konnte. Daher sagte ich: Mir schmeckt’s. Warum darf ich es nicht essen?
Ich befand mich nicht in einem der überdachten Restaurants, deshalb hatte mich der Bärtige entdeckt, sondern auf einem staubigen kleinen Platz, in dessen Mitte der Inder mit seinem Topf stand. Man bezahlt, bekommt seine Schale und einen Löffel und isst in einer Ecke im Stehen. Danach gibt man beides zurück.
Keine Ahnung, wer dieser Bärtige war – er trug einen riesigen weißen Turban, der so hoch war, dass der Mann nicht einmal tausend Stockschläge gespürt hätte. Sein Mund war von einem dermaßen dichten Bart bedeckt, dass man nicht sehen konnte, wie er beim Sprechen die Lippen bewegte. Nur ein kleines Stück seiner Wangen war noch zu sehen. Man hätte ihn glatt mit einem Bauchredner ver wechseln können, aber wahrscheinlich war er Wahabit, einer jener Fundamentalisten, die ständig zum Dschihad aufrufen.
Wie dem auch sei, er nahm mir meinen Teller weg und drehte ihn um. Dabei hatte ich die Suppe bezahlt, es war meine Suppe! Aber mir blieb nichts anderes übrig, als zuzusehen, wie die Suppe im Boden versickerte und eine Katze die Hülsenfrüchte fraß.
Da dachte ich mir: Jetzt reicht’s! Ich hatte genug davon, so behandelt zu werden. Ich hatte alles satt: Die Fundamentalisten. Die Polizei, die uns ständig anhielt, nach dem Pass fragte, und wenn wir keinen hatten, Geld von uns verlangte. Geld, das sie selbst einsteckten. Geld, das wir sofort rausrücken mussten, sonst schleppten sie uns aufs Revier und schlugen uns grün und blau, versetzten uns Fausthiebe und Fußtritte. Ich hatte es satt, mein Leben aufs Spiel zu setzen, denn jeden Tag konnte man einem Attentat der Wahabiten zum Opfer fallen. So wie an jenem Tag, als wir nicht wie sonst zum Beten in die große schiitische Moschee in Quetta gegangen waren. Warum, weiß ich gar nicht mehr, auf jeden Fall hörten wir irgendwann eine laute Explosion und rannten hin, um zu schauen, was los war. Da erfuhren wir, dass sich zwei Selbstmordattentäter in die Luft gesprengt hatten. Vor und in der Mosche gab es neunzehn Tote zu beklagen, zumindest hat man uns das so gesagt.
Auf der Straße traf ich viele Jungen, die in den Iran gingen oder aus dem Iran zurückkamen. Sie erzählten, dass es im Iran besser sei als in Pakistan (was mich nicht weiter wunderte, denn ich hätte darauf wetten können, dass es überall auf der Welt besser wäre als in Quetta, ohne jemals dort gewesen zu sein). Sie sagten auch, dass es dort mehr Arbeit gebe. Dann war da noch die Sache mit der Religion. Auch sie waren Schiiten – die Iraner, meine ich –, und für uns Hazara war das besser, ganz einfach weil sich Glaubensbrüder besser behandeln. Dabei bin ich der Meinung, dass man jeden gleich gut behandeln muss, egal, welchen Pass oder Glauben er hat.
Diese Gerüchte lagen einfach in der Luft, so als kämen sie aus den Lautsprechern der Muezzin. Auch der Flug der Vögel und ihr Gezwitscher kündeten davon, und weil ich jung war, glaubte ich daran. Was weiß man groß von der Welt, wenn man jung ist? Hören und glauben ist da ein und dasselbe. Ich glaubte alles, was man mir erzählte.
Als ich also hörte, dass es im Iran Schiiten gab, die einen gut behandeln, und jede Menge Arbeit, und als ich die Jungen sah, die aus Teheran oder Qom mit etwas Geld, sauberen Kopfbedeckungen, neuen Kleidern und in Turnschuhen statt Sandalen nach Afghanistan zurückkehrten, während wir Hazara vom Liaquat Basar stanken wie die Ziegen, ehrlich – also als ich sah, wie diese Jungen auf der Durchreise im Samavat Qgazi übernachteten, dachte ich, dass sie auch einmal so ausgesehen hatten wie ich, aber jetzt Jeans und Hemd trugen. Und so beschloss ich, ebenfalls in den Iran zu gehen.
Ich ging zu Onkel Rahim und fragte ihn um Rat, schließlich war er derjenige, der sich am besten mit Reisen auskannte. Ohne den Mund zu einem Lächeln zu verziehen, sagte er – während er die obligatorische Zigarette rauchte, deren Qualm sich in seinen langen Wimpern verfing –, dass es eine gute Idee sei, in den Iran zu gehen. Aber in einem Tonfall, als wären eine gute oder eine schlechte Idee bloß zwei Hälften eines Brötchens, das man ohnehin isst, ohne groß auf den Belag zu achten.
Er schrieb etwas auf einen Zettel, einen Namen, und gab ihn mir. Dann sagte er: Mit ihm musst du reden.
Es handelte
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