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Im Meer schwimmen Krokodile

Titel: Im Meer schwimmen Krokodile Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fabio Geda
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dachte ich. Oder aber es war dasselbe Glück, das mir der alte Freund meines Vaters gewünscht hatte, nachdem er uns nach Kandahar gebracht hatte. Also drehte ich mich abrupt um und rannte die Straße hinunter. Wenn ich nur schnell genug bin, sagte ich mir, heftet sich dieses Glück vielleicht an die Fersen eines anderen. Ich selbst wollte nach dem letzten Mal nämlich nichts mehr damit zu tun haben.
    Aus alter Gewohnheit, und weil es beinahe Zeit für die Pause war, dehnte ich meinen Radius bis zur Schule aus, um die Ballgeräusche und die Stimmen der Fangen spielenden Kinder aufzusaugen. Ich setzte mich auf eine kleine Mauer. Als die Lehrer wieder zum Unterricht riefen, stand ich auf und machte mich auf den Weg zum Basar. Dabei lief ich immer dicht an den Häuserwänden entlang, um von einer Seite geschützt zu sein, und hielt den Karton gut fest, aus Angst, beklaut zu werden.
    Der Basar, den mir der Sahib genannt hatte, heißt Liaquat Basar und liegt in der Innenstadt.
    Die Hauptstraße, die dorthin führt, ist die Shar Liaquat. Wegen der vielen grünen, roten, weißen und gelben Reklametafeln ist sie sehr bunt. Auf den gelben Reklametafeln steht Call Point Pco, sie zeigen ein Telefon. Die Blauen tragen den Schriftzug »Rizwan Jewellers« und so weiter und so fort. Unter den englischen Namen kommen die arabischen, unter den arabischen die in der Sonne flirrenden Staubkörner und inmitten der in der Sonne flirrenden Staubkörner ein Durcheinander aus Menschen, Fahrrädern, Autos, Stimmen, Schreien, Rauchschwaden und Gerüchen.
    Der erste Tag war wieder einmal schlimm, fast noch schlimmer als der erste Tag im Samavat Qgazi . Einer von denen, die man lieber vergisst. Anscheinend war ich doch nicht schnell genug gewesen, so dass sich das Glück an meine Fersen heften konnte.
    Es war bereits Abend, und ich hatte immer noch nichts verkauft. Ich war also entweder unfähig, etwas zu verkaufen, oder meine Ware war uninteressant, weil alle bereits mit Broten, Socken und Taschentüchern eingedeckt waren. Oder aber es gab irgendeinen mir unbekannten Trick, wie man seine Waren an den Mann bringt. Also lehnte ich mich verzweifelt an einen Laternenmast und starrte in den Fernseher, der im Schaufenster eines Elektrogeschäfts lief. Ich war so versunken in das Programm – eine Nachrichtensendung, eine Soap oder ein Tierfilm, was genau, weiß ich nicht mehr –, dass ich nicht das Geringste bemerkte. Bis ich plötzlich sah, wie sich eine Hand meinem Karton näherte, eine Packung Kaugummi herausnahm und wieder verschwand.
    Ich fuhr herum. Ein paar paschtunische Jungs – es dürften etwa sechs oder sieben gewesen sein, die Paschtu sprachen, es konnten aber auch Belutschen gewesen sein – standen mitten auf der Straße. Sie sahen mich an und lachten. Einer von ihnen, vermutlich ihr Anführer, spielte mit einer Packung Kaugummi – mit meiner Packung Kaugummi! – und balancierte sie auf dem Handrücken.
    Wir begannen zu streiten, ich in meiner Sprache, sie in der ihren.
    Ich hatte einfach Lust auf einen Kaugummi, sagte der Anführer der Belutschen.
    Gib mir meine Kaugummis zurück!, befahl ich.
    Dann hol sie dir doch! Er machte eine entsprechende Geste.
    Ich sollte sie mir holen? Schließlich war ich viel kleiner als die anderen und ihnen außerdem zahlenmäßig unterlegen. Die Jungen wirkten ziemlich aggressiv und nicht sehr vertrauenswürdig. Hätte ich mich mit dem Anführer angelegt, hätten sie mir bestimmt jeden Knochen im Leib gebrochen und mir sämtliche Waren geklaut. Wie hätte ich da dem Sahib erklären sollen, dass mir schon am ersten Tag alles gestohlen worden war? Nicht aus Feigheit, sondern rein aus Vernunftgründen beschloss ich, lieber ein Päckchen Kaugummi als meine Zähne und alles andere zu riskieren und wandte mich gerade zum Gehen, als …
    Gib sie ihm zurück.
    Gib ihm das Päckchen zurück.
    Wie aus dem Nichts waren plötzlich andere Hazara-Jungs neben mir aufgetaucht. Erst einer, dann zwei, dann drei, ja es wurden immer mehr, und manche von ihnen waren sogar noch kleiner als ich. Sie sprangen von den Dächern, quollen aus den Gassen. Innerhalb weniger Minuten waren wir den Belutschen zahlenmäßig überlegen. Als ihnen klar wurde, was los war, ergriffen viele die Flucht. Nur der Anführer und zwei seiner Getreuen, die ihn in die Mitte nahmen, blieben noch übrig. Sie waren allerdings einen Schritt zurückgewichen – sie hatten Angst. Ich fühlte mich wie ein Schneeleopard. Mit jenem kleinen Heer als

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