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Im Meer schwimmen Krokodile

Titel: Im Meer schwimmen Krokodile Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fabio Geda
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politisches Asyl aus gesundheitlichen Gründen zu beantragen.
    Was für politisches Asyl aus gesundheitlichen Gründen?
    Ja, weißt du das denn nicht? Es gibt einen Ort, eine Notaufnahme, wo man dich behandelt, wenn du krank bist. Dort kann man sich untersuchen lassen. Und wenn etwas gefunden wird, das bei dir nicht in Ordnung ist, kannst du aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr abgeschoben werden und bekommst eine Aufenthaltserlaubnis.
    Gibt es diesen Ort wirklich? Warum hast du mir nie davon erzählt?
    Na ja, weil man dort Spritzen bekommt, zum Beispiel. Nicht alle wollen sich untersuchen und Spritzen geben lassen. Aber wenn du ohnehin vorhast wegzugehen, ist das jetzt auch egal.
    Kennst du jemanden, der so eine Aufenthaltserlaubnis bekommen hat? Kennst du so jemanden persönlich?
    Ich? Ja, einen bengalischen Jungen. Er hat Glück gehabt. Vielleicht geht es dir genauso.
    Na, gut.
    Was?
    Ich gehe hin, sagte ich. Erklär mir, wie ich dahinkomme.
    Es war ein altes Gebäude mit bunten Fenstern, das überhaupt nicht so aussah wie eine Notaufnahme. Man musste im dritten Stock klingeln. Jamal und die anderen wollten unten auf mich warten, angeblich dauerte es mehrere Stunden. Ich klingelte, und man machte mir wortlos auf. Treppen.
    Der Eingangsbereich sah tatsächlich aus wie der Wartesaal einer Notaufnahme. Es gab zwar weder einen Schalter noch eine Krankenschwester, die man etwas fragen konnte, aber dafür vier oder fünf Männer, die auf Stühlen saßen. Ein paar lasen Zeitschriften, andere starrten in die Luft. Ich setzte mich ebenfalls und wartete, bis ich an die Reihe käme.
    Und plötzlich …
    Plötzlich ging wie durch einen Windstoß eine der vier weißen Türen auf, und eine Frau huschte heraus. Sie war splitterfasernackt. Ich riss die Augen auf und schlug sie gleich darauf nieder. Am liebsten hätte ich sie mir in die Tasche gesteckt und das Feuer auf meinen Wangen gelöscht. Aber ihr Erscheinen hatte mich dermaßen über rumpelt, dass mir jede Geste, jede Bewegung, ja jeder Atemzug dumm und unpassend vorkam. Ich war wie gelähmt. Die nackte junge Frau ging ganz dicht an mir vorbei. Ich glaube, sie sah mich sogar aus den Augenwinkeln an und lächelte. Dann schlüpfte sie durch eine andere Tür und war verschwunden. Ein Mann stand auf und folgte ihr. Aber gleich darauf erschien noch eine. Nackt. Bis es ungefähr zehn waren, die kamen und gingen. Bis …
    Bis was, Enaiat?
    Bis ich aufstand und die Flucht ergriff. Ich nahm die Treppe, nahm sechs Stufen auf einmal und rannte so schnell aus dem Haus, dass ich beinahe unter einem Auto gelandet wäre. Ich hörte eine griechische Hupe und griechische Schreie, und da entdeckte ich auch schon die anderen samt Jamal auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Sie lachten. Sie hielten sich die Bäuche und konnten sich kaum noch halten vor lauter Lachen. Das war das erste und letzte Mal, dass ich in einem Bordell war, ich schwör’s!
    Ich blieb bis Mitte September in Athen. Eines Tages verabschiedete ich mich von Jamal und bestieg einen Zug nach Korinth. Es hieß, die Polizei von Patras wäre brutal. Manche kehrten mit gebrochenen Gliedmaßen oder Schlimmerem zurück. Von dort aus wäre die Überfahrt nach Italien zwar kürzer, aber auch unangenehmer – ohne jede Hygiene und inmitten von Ratten. Ich habe eine Riesenangst vor Ratten. In Korinth, hieß es, wäre die Polizei lockerer. Ich fand einen griechischen Schlepper, der Leute in Lastwagen versteckte. Aber wenn man einen Lastwagen nimmt, weiß man nie, wo man landet. Kann sein, dass man glaubt, nach Italien zu fahren, und sich stattdessen in Deutschland wiederfindet. Und wenn man richtig Pech hat, kehrt man in die Türkei zurück. Der Schlepper wollte vierhundertfünfzig Euro, aber das Geld hatte ich bei Jamal in Athen zurückgelassen.
    Ich werde es dir nicht im Voraus geben, sagte ich. Wenn ich in Europa bin, rufe ich meinen Freund an, und der bringt es dir dann. Entweder so oder gar nicht.
    Einverstanden, sagte er.
    In Korinth muss man sich im Hafengebiet in einem Lastwagen verstecken. Im Anhänger inmitten von Wa ren oder zwischen den Rädern. In den darauffolgenden Wochen versteckte ich mich mehrmals, auch an sehr gefährlichen Orten. Aber die Kontrolleure entdeckten mich jedes Mal. Die Kontrolleure von Korinth sind schlau, sie wissen ganz genau, wie das funktioniert. Sie kommen mit Taschenlampen und gucken zwischen die Kartons, Säcke oder unter die Anhänger. Sie inspizieren jeden Winkel, jede Lücke, denn

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