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Im Meer schwimmen Krokodile

Titel: Im Meer schwimmen Krokodile Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fabio Geda
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alte Dame zum Busbahnhof. Sie kaufte mir höchstpersönlich eine Fahrkarte, gab mir fünfzig Euro, verabschiedete sich und ging. Ich weiß noch, wie ich dachte, dass es enorm gute Menschen gibt.
    Da, schon wieder!
    Was denn?
    Du erzählst etwas, wechselst dann aber plötzlich das Thema. Erzähl mir mehr von dieser Frau, Enaiat. Beschreibe mir ihr Haus.
    Warum?
    Weil es mich interessiert und andere vielleicht auch.
    Ja, aber das habe ich dir doch schon erzählt. Mich interessiert nur, was sie getan hat. Wie sie heißt oder wie ihr Haus eingerichtet war, ist dabei völlig nebensächlich. Jeder könnte sie sein.
    Inwiefern?
    Jeder, der sich so verhält.
    So unglaublich das auch klingen mag, aber so bin ich nach Mytilini gekommen. Mytilini ist eine große Stadt mit vielen Einwohnern, Touristen, Geschäften und Autos. Ich fragte nach der Straße zum ship station beziehungsweise nach dem Hafen, wo die Fähren nach Athen abgehen. Die Leute antworteten mir wie immer mit Worten, aber ich achtete vor allem auf ihre Gesten.
    Hier entlang, hier entlang.
    Als ich zum Hafen kam, begegnete ich jeder Menge anderer afghanischer Jungen, die sich dort schon seit Tagen herumtrieben und versuchten, eine Fahrkarte zu kaufen. Bei jedem Versuch wurden sie fortgejagt, denn man sah sofort, dass sie keine normalen Reisenden, sondern Illegale waren. Das entmutigte mich ein wenig. Wie lange würde ich warten müssen?
    Doch es kam ganz anders.
    Vielleicht lag es an meiner Kleidung, daran, dass ich frisch geduscht war. Vielleicht auch daran, dass ich satt und zufrieden war und auch so aussah – auf jeden Fall sagte die junge Frau hinter dem Schalter, nachdem ich eine Fahrkarte verlangt hatte: Achtunddreißig Euro. Ich konnte mein Glück kaum fassen und sagte: repeat, woraufhin sie wiederholte: Achtunddreißig Euro.
    Ich steckte den Fünfzigeuroschein der alten Dame durch den Schlitz. Die junge Frau hinter dem Schalter, die noch dazu sehr hübsch war – große Augen und gut geschminkt –, nahm ihn und gab mir zwölf Euro zurück. Ich bedankte mich mit einem ungläubigen thank you und ging hinaus.
    Wie die anderen staunten, als sie mich mit der Fahrkarte sahen! Alle scharten sich um mich und wollten wissen, wie ich das geschafft hatte. Manche wollten mir tatsächlich nicht glauben, dass ich sie selbst gekauft hatte, und behaupteten, ich hätte sie mir von einem Touristen kaufen lassen, so touristisch wie ich aussah. Aber dem war nicht so.
    Wie hast du das geschafft?, fragten sie.
    Ich habe einfach eine Fahrkarte verlangt, erwiderte ich. Ganz normal am Schalter.
    Die Fähre war riesig, fünf Stockwerke hoch. Ich ging bis nach ganz oben, um eine bessere Aussicht zu haben. Ich genoss es mit jeder Faser meines Körpers, bequem und entspannt in einem Sessel zu sitzen, statt in einem Schlauch boot oder im Hohlraum eines Lasters zu knien, als ich plötzlich Nasenbluten bekam. Das war das erste Mal in meinem Leben, dass ich Nasenbluten hatte.
    Ich rannte auf die Toilette, um mir das Gesicht zu waschen. Ich hielt den Kopf unter den Hahn, während das Blut nur so tropfte. Auf einmal hatte ich das Gefühl, dass mit dem Blut auch sämtliche Erschöpfung, der Wüstensand, der Straßenstaub, der Schnee aus den Bergen, das Salz des Meeres, der Löschkalk aus Isfahan, die Steine aus Qom und der Kloakenschlamm aus Quetta aus mir herausflossen. Als ich aufhörte zu bluten, ging es mir hervorragend, so gut wie noch nie in meinem Leben. Ich trocknete mir das Gesicht ab.
    Als ich mich nach einem neuen Sitzplatz umsah – nach wie vor im fünften Stock, den Horizont fest im Blick –, kam ich an einer Reihe besetzter Bänke vorbei. Ich wich einem spielenden Mädchen aus und rempelte das Knie eines Jungen an. Entschuldigung, sagte ich und sah ihn flüchtig an. Ich wollte mich schon umdrehen und weitergehen, als ich stehen blieb und genauer hinsah. Das ist doch nicht möglich!, dachte ich.
    Jamal.
    Er hob das Kinn: Enaiatollah.
    Jamal hatte ich im Iran, in Qom, kennengelernt, bei einem der Fußballturniere zwischen den Fabriken. Wir umarmten uns.
    Ich habe dich vorhin gar nicht gesehen, sagte er. Vorhin, am Hafen.
    Ich bin gerade erst angekommen.
    Aber ich habe dich auch nicht in Mytilini gesehen.
    Ich bin erst gestern auf die Insel gekommen.
    Das kann nicht sein!
    Ich schwör’s.
    Wie denn?
    Mit dem Schlauchboot. Aus Ayvalik.
    Das kann nicht sein!
    Ich schwör’s.
    Gestern bist du noch im Schlauchboot gesessen, und heute bist du schon auf der Fähre?
    Ich habe

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