Im Mond des Styx - Lohmann, A: Im Mond des Styx
dafür erforderlich, weil der Fluss selbst schon so viele Kiesel ans Ufer gespült hatte, dass ein Weg daraus geworden war und den Bewuchs auf Abstand hielt.
Und dann liefen die Barken in eine Bucht ein, die vor einem Steilhang lag wie ein klarer Bergsee. Der schneebedeckte Gipfel spiegelte sich im kristallblauen Wasser, das sich in unergründlicher Tiefe verlor. Ein eisiger Hauch von den Höhen drückte die Segel gegen den Mast, und nur vom eigenen Schwung getragen glitten die Schiffe auf ein steiniges Ufer zu.
Hauptmann Borija stand wieder am Bug und studierte eine große Karte aus altersfleckigem Pergament. Er runzelte die Stirn und verglich die Einträge mit dem, was er vor sich sah. Swetja versuchte, über seine Schulter hinweg einen Blick zu erhaschen, doch die Farben auf dem Pergament waren mit dem Alter verblasst. Sie waren kaum noch zu unterscheiden von den Flecken und den angelaufenen Stellen, und es war unmöglich, mit einem schnellen Seitenblick etwas zu erkennen.
»Vielleicht kann ich helfen«, bot sie an. »Ich kenne mich aus mit Karten, vom Himmel wie von der Erde, und ich habe schon viele alte Papiere studiert.«
Borija warf ihr einen kurzen Blick zu und rollte die Karte zusammen. »Oh, Karten gehören zum täglichen Brot eines Soldaten. Aber die hier ist alt. Nicht nur die Karte selbst hat gelitten, auch die Landschaft hat sich verändert. Das macht die Orientierung nicht gerade leichter.«
Er hatte Swetja nicht in die Karte schauen lassen, und sie ärgerte sich. Er hatte sich erfreut gezeigt, als sie ihre Trauer abgeschüttelt und ihre Bereitschaft erklärt hatte, nach besten Kräften zu helfen. Dazu hatte er ihr allerdings keine Gelegenheit gegeben, und mit jedem Tag fühlte sie sich mehr wie ein Gepäckstück, das einfach mitgeschleppt wurde.
Sie setzten die Männer und die Pferde an Land und die wenige Ausrüstung, die ihnen geblieben war. Borija schritt das Ufer ab und vermaß mit den Fingern die fernen Bergspitzen. Swetja war überzeugt, dass sie das jederzeit besser und genauer gekonnt hätte. Seine Männer saßen auf den Taschen und Kisten oder standen bei den Pferden und sahen betreten den auslaufenden Schiffen nach.
Swetja fasste sich ein Herz.
»Hauptmann Borija«, sprach sie ihn halblaut an. »Ihr habt mir gesagt, ich soll Euch folgen wie einer Eurer Soldaten. Aber jeder der Soldaten hat eine Aufgabe. Wie kann ich Euer Soldat sein, wenn Ihr mir nicht die Aufgaben anvertraut, die meiner Stellung und meiner Befähigung entsprechen, wie Ihr das bei jedem Eurer Männer tun würdet?«
Borija sah sie an. »Dewa Swetjana«, sagte er. »Ihr habt eine Aufgabe auf dieser Reise, aber erst dann, wenn wir unser Ziel erreicht haben und wenn es darum geht, die Angelegenheiten von okkultem Interesse zu behandeln. Solange ist es unsere Aufgabe, Euch zu beschützen und sicher dorthin zu bringen.«
Borija seufzte. Verstohlen blickte er sich um. Dann schob er ihr die Karte hin und flüsterte: »Aber meinetwegen. Ich muss zugeben, ich stehe hier vor unerwarteten Problemen, und die Zeit drängt. Wenn Ihr die Route darauf ablesen könnt …«
Swetja breitete die uralte Karte auf einem Haufen trockener Steine aus. Erst einmal verschaffte sie sich einen Überblick. Es war schwer, die Linien zu erkennen, selbst wenn man mit den Augen ganz nah an das Pergament heranging. Aber Borija half ihr. Mit dem Finger wies er auf jene Elemente der Karte, die er bereits kannte. Er erklärte die Beschriftung. Swetja wunderte sich, warum ein Soldat diese alte Schrift lesen konnte, denn sie selbst wäre dazu nicht in der Lage gewesen. Der Hauptmann musste das Dokument mit einem anderen Gelehrten durchgegangen sein, vermutlich etliche Male, bevor sie aufgebrochen waren.
Swetja erkannte schließlich den Flusslauf, dann Berge, aber auch Dörfer, Straßen und sogar Städte. Ein ganzes Land im Schatten des Gebirges war auf dem Pergament verzeichnet, eines, von dem Swetja noch nie zuvor gehört hatte. Waraj , erklärte Borija zu den Schriftzügen, die den Namen des Landes bezeichneten.
Swetja suchte die Berge, die sie auf der Karte sah, auch in der Wirklichkeit. Sie schätzte Entfernungen ab, und sie wusste, dass sie gut darin war. Sie berechnete Distanzen und Positionen, sie kalkulierte genau und wiederholt und erwog andere Möglichkeiten. Endlich wandte sie sich zu Borija hin und sagte leise, aber entschieden: »Hauptmann Borija. Dieses Land auf Eurer Karte – das gibt es nicht!«
»Das ist unmöglich«, sagte Borija.
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