Im Mond des Styx - Lohmann, A: Im Mond des Styx
Kopf war nach vorn gesunken; lange schmierige Haare verdeckten das Gesicht; die nackten, graufleckigen Beine hingen zwischen den Streben hindurch aus dem Käfig. Gontas sah Spiegel und Linsen aus klarem Kristall, die am Schachtrand, an der Hallendecke und oben an den Wänden angebracht waren.
Er ließ sich ein Stück weiter hinab, fast bis an das Ende der herabhängenden Ketten und Seile. Dort schwang er hin und her und sprang. Er rollte sich auf dem Steinboden ab, stand auf und riss sogleich die Stabklinge von seinem Rücken.
Alles blieb still, nur die Ketten hinter ihm klangen leise.
Gontas wartete einige Augenblicke wachsam ab, dann atmete er auf. Er nahm auch den Bogen von der Schulter und zog den letzten Pfeil aus dem Köcher. So gerüstet, spähte er in beide Durchgänge. Lange Flure mit niedrigen Decken führten dahinter tief in die Fundamente des Turms, gemauert und ebenso mit Feuermulden erhellt wie das Gewölbe, in dem er stand. Gontas konnte nur ein paar Schritte weit sehen. Er schnupperte, doch er roch nichts als eine leichte Fäulnis in der Luft, den Gestank nach Exkrementen, der in dem zugigen Raum rasch verwirbelt wurde.
Er lauschte, und aus dem einen Gang vermeinte er, ferne Schreie zu hören. Der Laut wiederholte sich nicht. Doch nun vernahm er ein Geräusch hinter sich, wie das Rascheln trockener Tücher. Gontas fuhr herum. Es schien aus der Tiefe gekommen zu sein, aus der Öffnung im Boden. Gontas ging behutsam darum herum, doch er hörte nur das Echo seiner eigenen zögernden Schritte.
Gontas konnte den Blick nicht mehr von der Öffnung wenden. Blutroter Flammenschein spielte über die Steinplatten am Rand. Mühsam löste er sich von der hypnotischen Kraft der Tiefe.
»Sieh an!« Eine fröhliche Stimme von der anderen Seite des Schachts ließ Gontas hochfahren. »Nachschub, und gerade zur rechten Zeit!«
Durch einen der Zugänge trat ein Mann in das Gewölbe. Er mochte mittleren Alters sein, aber sein Gesicht war so ausdruckslos wie eine Steinfigur. Er trug einen silbernen Reif um die Stirn mit einem einzelnen großen Stein daran, dessen Form und Maserung nicht nur an ein Auge gemahnte, sondern der bei jeder Bewegung des Kopfes auch noch zu zwinkern schien. Das weiße Gewand mit dem reichen Faltenwurf fing das Licht auf absonderliche Weise ein und zeigte rote und orange Flecken, durchsetzt von dunklen Schattenrissen. Er gebrauchte die Sprache der Städter, doch mit einem Akzent, den Gontas nicht zuordnen konnte.
An der Seite des Mannes standen zwei der ameisenartigen Myrmoi – dieselben, die Gontas zuvor im Turm gesehen hatte, oder andere, wer vermochte das zu sagen? Sie hielten Waffen mit sichelförmigen Klingen locker im oberen Paar der vier Gliedmaßen, die ihnen als Arme dienten. Mit dem zweiten Armpaar schleiften sie einen schlaffen Körper hinter sich her. Ihre Facettenaugen musterten die Szenerie gleichmütig, und sie reagierten mit keiner Bewegung auf das, was sie sahen.
Gontas sah genauer hin. Er kannte die Gestalt, die reglos zwischen den riesigen Insekten hing! Es war das dunkle Lederzeug der Söldnerin Tori, das er an der Gestalt sah. Sie hatte ihren Haken verloren, und ihr Armstumpf lag bloß und wund in den Klauen der Ameisen; ihr kurzes Haar klebte von getrocknetem Blut, und was Gontas von ihrem Gesicht erkennen konnte, sah zerschrammt aus und zerschunden.
Er riss seinen Bogen hoch und legte geschmeidig den Pfeil auf die Sehne. Der Mann mit dem Stirnreif wollte gerade weitersprechen und konnte auf Gontas’ rasche Bewegung nicht reagieren. Der Buschläufer ließ den Pfeil fliegen, noch bevor seine Stabklinge, die er für den Schuss losgelassen hatte, den Boden berührte.
Mit einem dumpfen feuchten Laut fuhr die gezahnte Spitze in die Brust des Mannes. Der taumelte ein wenig zurück, bis der Ameisenmensch neben ihm einen Arm ausstreckte und ihn auffing. Lautlos bewegte er die Lippen – aber im selben Moment drang aus dem Käfig mit der leblosen Gestalt unter der Decke ein gurgelnder, erstickter Schrei, der Gontas erstarren ließ. Sein Arm mit dem nutzlosen Bogen sank herab.
Der Mann mit dem Stirnreif schüttelte sich unwillig. Er löste sich aus dem Griff seines insektenhaften Begleiters. Wieder bewegte er die Lippen, doch er brachte nur ein gurgelndes Zischen hervor. Gontas’ Pfeil steckte in der Lunge. Doch das schien ihn kaum zu beeindrucken. Er umschloss den Schaft mit den Fingern und zog die zackenbewehrte Spitze heraus. Blut durchtränkte sein Gewand, Fetzen des
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