Im Mondlicht (Phobos) (German Edition)
Jahren waren hier noch nicht zur Ruhe gekommen. Die Schreie der gefolterten Bewohner, als die spanische Soldateska über sie herfiel, waren in die Wände eingemauert. Man hatte es ihr erzählt, und Nora hatte es nicht gerne gehört. Denn für sie war dieses Haus wirklich ein Märchenschloss gewesen. Sie hatte nicht bedacht, wie grausam Märchen bei genauerer Betrachtung sind. Es war wie eine Vision: All die jungen Männer in den armdicken Dornenranken, durchbohrt von dolchlangen Spitzen. Und was das eigentlich Erschreckende daran war: Nora ahnte, dass es den Retter nicht geben würde. Jenen sagenhaften Befreier, vor dem die Dornen wie von selbst zurückwichen, weil er im Gegensatz zu den anderen armen Kerlen, genau im richtigen Moment gekommen war. Der Bann dieser Dornen hier schien nicht nur für hundert Jahre zu gelten, sondern für immer.
Nora ging ein paar beinahe leichtfüßige Schritte zum Teich hinunter. Sie war eine schlanke, gelenkige Person. Es war ihr wichtig, so zu sein. Sie sorgte immer dafür, dass sie neben ihrer künstlerischen Tätigkeit genug Bewegung hatte.
Das Wasser lag wie ein friedvoller, perfekter Spiegel des Himmels zu ihren Füßen. Aber irgendetwas sagte ihr, dass der Friede eine Täuschung war. Ihr Magen krampfte sich zusammen. Sie gewahrte am Stamm der dicksten Weide dicht am Wasser einen graugelben Flecken. Nora wurde übel. Sie ging um den Teich herum und erkannte die Katze. Ihre Pfoten waren an den Baumstamm genagelt worden. Das Maul stand weit offen, in einem endlosen Schrei erstarrt. Jemand hatte ihr die Bauchhöhle aufgeschnitten, die Eingeweide hingen bis auf den Boden herab. Große braune Waldameisen hatten die Nahrung gewittert und vollbrachten mit ihren winzigen messerscharfen Kiefern ihr ökologisch fraglos notwendiges, aber doch irgendwie grausames Werk.
Bitter stieg es in Nora hoch. Warum hatten sie die Katze nicht schreien gehört? Sie musste erbrechen und konnte gar nicht mehr aufhören.
Etwa eine halbe Stunde später besah sich ein etwas lethargisch wirkender uniformierter Polizist die üble Tat. Nora sah vom Fenster aus zu, wie er sich schließlich aufraffte, eine Kamera aus dem Wagen holte und den Tatort aus verschiedenen Richtungen fotografierte. Als er fertig war, kam er zum Haus hinauf. Nora hörte, wie Bernd ihm öffnete. Zunächst gab es das übliche Frage- und Antwortspiel.
Plötzlich aber hörte Nora den Polizisten sagen: "Nun , erstens handelt es sich um eine Katze, also ein weibliches Tier. Gewiss, das kann Zufall sein. Vielleicht steckt da aber auch mehr hinter. Und zweitens: Diese Kreuzesform. Bei vier Pfoten bleibt ihm vielleicht nichts anderes übrig, aber trotzdem..."
Wieder schlug Bitteres in Noras Kehle. Sie wandte ein: "Ich verstehe gar nicht, wie Sie so verdammt sachlich über diese absolute Grausamkeit sprechen können."
Der Polizist sah sie an. Jetzt erst merkte Nora, wie jung er noch war. Viel jünger als seine Körperhaltung und seine Stimme es verrieten.
"Es ist grausam. Das ist keine Frage. Und nicht nur weil es illegal ist, Tiere zu quälen, will ich den Typen haben. Verstehen Sie, es geht nicht nur um Formales, rein Juristisches. Ich kann ihn einfach leichter aufspüren, wenn ich weiß, wer er ist. Und damit meine ich zunächst nicht seinen Namen. Ich meine seine Persönlichkeit. Gerade in seiner unglaublichen Grausamkeit steckt bestimmt etwas sehr Individuelles."
"Das ist eine beinahe ästhetische Betrachtungsweise", gab Nora zurück.
Aber der Polizist ließ sich nicht irritieren: "Entweder ich bin imstande mir eine Tat genau anzusehen oder ich sollte besser nicht zur Polizei gehen."
"Macht Ihnen fast Spaß, nicht wahr?"
"Möchten Sie, dass der Täter gefasst wird?"
Nora spürte, dass sie es nicht glauben wollte. Sie wollte nicht glauben, dass es notwendig war, in das Labyrinth eines Tätergehirns hinabzusteigen, um ihn zu fassen. Sie verzichtete auf eine Antwort.
"Übrigens heiße ich Kolob", setzte der Polizist hinzu. "Mark Kolob. Die Grausamkeit an dem Tier gibt dieser Tat eine besondere Dimension. Die Grausamkeit heißt: Seht her, wozu ich in der Lage bin! Die Grausamkeit ist ein Zeichen."
Bernd fragte: "Und worauf wollten Sie hinaus, als Sie das Kreuz erwähnten?"
"Das weiß ich auch noch nicht genau, ich muss noch ein wenig nachdenken."
Die Frösche quakten. Die Uhr tickte. Wind kam auf und weckte ungeahnte Geräusche in dem alten Haus.
Schließlich sagte der Polizist: "Er wollte Ihnen was durchkreuzen." Er richtete
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