Im Mondlicht (Phobos) (German Edition)
seine wasserhellen Augen auf Nora. "Haben Sie eine Freundin?"
Nora wurde wieder übel. Gewiss hatte sie eine Freundin. Ihre wichtigste, beste und einzige Freundin Rut. Als Künstlerin war es Nora nicht möglich gewesen, einen großen Freundeskreis zu halten. Umso wichtiger war ihr diese eine. Nora raste zum Telefon. Eigentlich kannte sie die Telefonnummer auswendig. Aber diesmal versagte ihr Gedächtnis. Sie musste in ihrem Verzeichnis nachschlagen. Nora wählte. Das schnelle Tuten ertönte. Besetzt.
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Es schellte an der Türe. Rut begann zu fluchen. Sie hatte sich noch immer nicht ganz auf ihr neues Textverarbeitungsprogramm einstellen können. Irgendwie hatte sie sich in diesem unübersichtlichen Befehlsmenü verlaufen. Sie mochte ihren Computer sehr. Aber dieses neue Programm hatte es in sich. Wütend warf sie ihre langen braunen Haare zurück. Sie war jetzt 49 Jahre alt. Aber ihre Haare hatten ihr tiefes Braun behalten. Rut Bordes war eine arrivierte Schriftstellerin. Sie gehörte zu den Frauen, die es geschafft haben, sich eine erträgliche Existenz zu erschreiben. Ihre Bücher wurden von einer Menge Menschen gerne gelesen.
Rut fluchte, aber dann erhob sie sich doch. Sie hasste Störungen bei der Arbeit. Das war wahrscheinlich auch der Grund dafür gewesen, dass sie nach und nach alle Freunde verloren hatte. Auf dem Weg zur Türe schloss sie ihren Gürtel und zog sich den Reißverschluss ihrer Hose hoch. Immer wenn sie schrieb, öffnete sie ihren Hosenbund, weil sie dann besser Luft bekam. Die Hose flatterte um ihre Hüften. Der Roman, an dem sie gerade schrieb, näherte sich der Endphase. Das erzeugte jedes Mal eine solche Spannung in ihr, dass ihr jeglicher Appetit verging. Sie aß eindeutig zu wenig. Sie konnte es einfach nicht.
Sie sah durch den Spion. Aber da stand niemand. Wahrscheinlich wieder eine dieser beknackten Reklamen. Immer wieder gelang es Austrägern von Reklamepost in dieses riesige Mietshaus zu gelangen. Hier wohnten mindestens fünfzig Parteien. Rut liebte Anonymität. Außerdem war diese Wohnung relativ billig.
Rut öffnete die Türe. Auf der Fußmatte lag keine Reklamepost, sondern ein silbernes Kreuz. Es mochte etwa handtellergroß sein, und schon auf den ersten Blick erkannte Rut die ungewöhnliche Form des Korpus. Was immer da gekreuzigt war, keineswegs handelte es sich um einen Menschen. Der Flur öffnete sich vor Ruts forschendem Blick wie eine große, leere Höhle. Ganz von fern erklangen die Geräusche des Aufzuges. Kein Mensch war zu sehen.
Rut hob das Kreuz auf. Es fühlte sich eiskalt an. Ein religiöser Gruß? Irgendeine Sekte auf missionarischem Trip? Der Korpus stellte eine Katze dar. Irgendwo hatte Rut so etwas schon einmal gesehen. Sie setzte sich wieder an den Computer und legte das Kreuz neben ihr Terminal. Jetzt erinnerte sie sich wieder. Es war bei einer dieser ökologisch orientierten christlichen Gruppe n gewesen. Da hatte so ein Plakat gehangen. Es sollte die Tat des bösen (männlichen) Menschen darstellen, der die ganze Schöpfung kreuzigt. Jemand, den sie nicht kannte, hatte neben ihr in ziemlich überheblichem Ton erklärt, dass das Motiv der gekreuzigten Katze der Teufelsmesse entnommen sei. Und er hatte ausgeführt, dass auch die ironische, provokative Darstellung solcher Motive nicht ohne destruktive Wirkung auf den Künstler bleibe, von der Auswirkung auf die Betrachter einmal ganz abgesehen.
Das Kreuz wirkte sehr wertvoll. Es war mit äußerster Sorgfalt angefertigt. Aber Rut wusste, dass sie es nicht gerne über Nacht in ihrer Wohnung haben würde. Das Kreuz glitzerte. Es war ganz neu.
Das Telefon in der Diele klingelte. Ruts Stimmung näherte sich dem Nullpunkt. Aber dann erhob sie sich doch und ging die paar Schritte zum Telefon hinüber. Eine ächzende, schniefende, rasselnde Stimme sagte: "Hallo, meine Schöne, spürst du schon die Wirkung?"
"Arschloch!" , gab Rut ohne Nachdenken zurück und hängte ein. Sie kannte diese Art Anrufe zur Genüge. Scheint ein richtiger Sport zu werden, dachte Rut. Sie hatte sich angewöhnt, die Worte solcher Anrufer gar nicht in sich aufzunehmen, sondern gleich hart zu kontern. Als härtester Konter hatte sich das Auflegen erwiesen. Es kostete sie, im Gegensatz zu verbalen Wutattacken keinerlei Kraft.
Rut setzte sich wieder an den Computer. Während ihre Augen fest auf die Monitorschrift geheftet waren, tippten ihre Finger blind: "Der alte Baum hob sich mit seinen gewaltigen Armen aus dem seichten
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