Im Mondlicht (Phobos) (German Edition)
Sigrid und Hans einbringen. Die beiden waren auch psychologische Berater. Er machte nicht nur Supervision mit ihnen zusammen. Sie berieten sich auch oft bei schwierigen Klienten gegenseitig. Das war überhaupt immer sehr interessant: Kreativität im Dreierpack.
Aber Gerd liebte auch, was er jetzt allein tat. Jetzt nahm er das Blatt aus dem Drucker, ging die Treppe hinauf ins Wohnzimmer und ließ sich in seinem Denkersessel nieder. Er stopfte genießerisch seine Pfeife, zündete sie an und ließ seinen Blick noch einmal über die gedruckten Zeilen laufen. Normalerweise setzte sich ein Bild vor seinem inneren Auge zusammen, eine Vorstellung von dem, was dem Klienten passiert war, manchmal auch ein Bild vom Klienten. Aber dieses Bild war keine feste Einheit, sondern bereit, sich bei jeder neuen Information, die er bekam, zu verändern, sich neu anzupassen. Jedes Wort, das er las, war mehr als ein Wort. Jedes Wort war ein Programm. Er brauchte es nur zu öffnen.
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Aaden wusste, dass es bald wieder soweit sein würde. Das war sein eigentlicher Lebensinhalt: Menschen jagen. Seine Arbeit in einem Servicecenter der Bundesbahn erledigte er gewissermaßen nebenbei. Dass er mit dreißig noch keine Familie gegründet hatte, fiel in dem Haus, in dem er wohnte, nicht auf. Es hieß im Volksmund: "Der schwarze Riese", war eines dieser unsäglichen Hochhausmonstren aus den Sechzigern. Hier kümmerte sich niemand um die Anderen, es sei denn, die Anderen grillten auf dem Balkon und nervten die Nachbarn mit Gestank und Lärm. Hier fühlte sich Aaden wohl. Er grüßte freundlich, wenn er jemandem begegnete, aber auch nicht zu freundlich, denn das wäre in diesem Haus wiederum aufgefallen.
Normalerweise betrat niemand seine Wohnung. Deshalb konnte er da auch tun und lassen, was er wollte. Er tat es aber nicht. Die Wohnung gehörte zu seiner bürgerlichen Tarnung. Niemals hatte er etwas, das sein Lebenszentrum hätte verraten können, mit in die Wohnung genommen. Was verräterisch hätte sein können, war z.B. seine externe Festplatte, auf der er alle Bilder seiner Taten gespeichert hatte. Aber die war gut verborgen. Meistens nahm er sie in sein Versteck mit. Deshalb konnte er durchaus mal einen Nachbarn oder eine Nachbarin auf ein Schwätzchen einladen, wenn sich die Gelegenheit ergab. Die Tatsache, dass er einer geregelten Tätigkeit nachging, unterstützte seine Mimikry. Die DB gab ihm den Anschein von Solidität und Seriosität. Wenn Bewohner des Wohnkomplexes gefragt worden wären, wem von den Mitbewohnern sie etwas Böses zutrauten, so wäre garantiert die albanische Großfamilie als Erste genannt worden, Aaden ungefähr als fünfundzwanzigster. Für die meisten war er gar nicht da.
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11.September gegen 3.00 Uhr
Etwas stimmte nicht, plötzlich wurde es Gerd bewusst. Ein Geräusch, das nicht in diese Zeit, nicht in diese Situation gehörte, drängte sich ihm auf. Es war ein gewohntes Geräusch, etwas, das man immer nur ein bisschen hört, sozusagen ganz am Rande. Wasserrauschen. Natürlich kannte Gerd das Geräusch. Er kannte es besonders vom Sonntagnachmittag her, und da war es Musik in seinen Ohren gewesen, zu hören, wie Maria duschte. Aber Maria war fort, nun schon seit zwei Jahren.
Gerd stand auf, ging vorsichtig durchs Wohnzimmer, Schritt für Schritt. Er öffnete die Tür zum Bad und spähte um die Türpfosten. Seine Brille beschlug. Das Geräusch klatschenden Wassers klang in seinen Ohren wie das Rauschen des Niagarafalles. Er setzte die Brille ab, trat ein und sah, dass die Dusche wie verrückt lief.
Aber nicht etwa Wasserdampf waberte durch das Bad. Offenbar war das ausströmende Wasser eiskalt. Das Badezimmer hatte die Temperatur einer Gletscherhöhle. Gerd schloss die Ventile. Sie waren völlig intakt, aber die Haut seiner Finger blieb am Metall kleben, so kalt waren die Wasserhähne. Er hatte keine Erklärung dafür.
Als er zum Arbeitszimmer ging und sich wieder vor den Computer gesetzt hatte, blieb ein hohles Gefühl in ihm zurück. All das Adrenalin war völlig umsonst in ihm aktiviert worden und völlig ins Leere gegangen. Was bedeutet schon ein kaltes Badezimmer?
Natürlich hatte Maria recht, wenn sie sagte, durch den Internetkontakt, durch die E-Mails hätte man es nicht mehr mit echten Menschen, sondern nur mit Worten über Menschen, zu tun. Natürlich hatte sie recht, wenn sie sagte, dass so der ganze Bereich der Einfühlung, der durch seine Sinneswahrnehmung vom Klienten
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