Im Mondlicht (Phobos) (German Edition)
Anfang an hätte tun müssen: Er hatte einen Kollegen konsultiert, einen, den er und der ihn nicht kannte. Er hatte Glück. Der Kollege war gut. Er fuhr nicht auf der für manche Berater sicher ziemlich einträglichen Burnout-Schiene. Gerd bekam die Gelegenheit, seine Ängste und ihre Hintergründe kennenzulernen, die ihn fertigmachten. Es war nicht die Arbeit, es war nicht die Frau. Es waren seine Ängste. Aber es waren bestimmte Menschen bei seiner Arbeit und zufällig auch seine Frau in der nahen Umgebung, die seine Ängste schürten, vielleicht ohne es zu wissen. Gerd gestaltete sein Leben völlig um, seinen Beruf und seine Ehe. Dabei blieb Maria auf der Strecke.
Früher hätte Gerd den Vorfall im Badezimmer und die Geräusche auf dem Dachboden ignoriert. Das war eine Fähigkeit, die er in den 22 Jahren Ehe mit seiner Frau Maria enorm gut entwickeln konnte. Aber heute war Gerd nicht mehr bereit, etwas zu ignorieren, was seine Ängste anfachte.
Mit diesem hohlen, unangenehmen Gefühl im Magen, das er so gut kannte, stieg er die Treppe hinunter und ging durchs Wohnzimmer in sein Arbeitszimmer zurück.
Nachdem Maria ausgezogen war, hatte ihn die Schwermut gepackt. Alles schien ihm dunkel, innen und außen. Um äußerlich mehr Helligkeit zu schaffen, hatte er alles weiß gestrichen, sogar die Möbel. Es hatte ihm wirklich gut getan. Er war wieder in Schwung gekommen. Vielleicht tat ihm das Singledasein besser, als er sich eingestand. Vielleicht war der Rückgang der Falten in seinem Gesicht ein Indiz dafür. Aber heute fand die neue Ära der Helligkeit ihr Ende. Heute schienen die weißen Möbel, die weißen Böden und die weißen Wände gerade die dunklen Schatten zu betonen. Er seufzte und machte sich wieder an die Arbeit.
"Meine Frau" schrieb Gerritmen . Er legte Wert auf die Festlegung seiner Frau auf die Eherolle. Und "Meine Frau" war die Frau, die er 1985 geheiratet hatte. Und wenn sie sich auch nur ein bisschen verändert hatte, dann hatte sie sich in seinem Blick gewiss "enorm" verändert. Jede Veränderung ist eine enorme Veränderung, wenn Veränderung eigentlich überhaupt nicht gestattet ist.
Gerd sinnierte weiter. Das Possessivpronomen "mein" beschreibt in erster Linie ein Besitzverhältnis. Sie gehört ihm. Wenn sie sich anders verhält, gerät er ins Schleudern. Wenn sie sich so verhält, als wäre sie nicht "seine" Frau, sein Besitz, gerät seine Welt ins Wanken.
"Die Kinder sind jetzt teilweise erwachsen, teilweise jugendlich. Jedenfalls beanspruchen sie meine Frau nicht mehr allzu sehr."
Sein Interesse an den Kindern selber ist peripher, diagnostizierte Gerd. Sie sind hier nur erwähnt, um die Veränderung seiner Frau zu beschreiben. Er nimmt nicht wahr, dass sich die Kinder tatsächlich enorm verändert hatten, und dass seine Frau darauf reagieren musste, um nicht Schreckliches anzurichten. Und, nicht zu vergessen, eigentlich hätte auch Gerritmen darauf reagieren müssen. Aber offensichtlich hatte er sich so wenig wie möglich von den Kindern beeinflussen und beeindrucken lassen. Er hatte die Ernährerrolle gewählt, die die Männer immer etw as außerhalb der Familie setzt. Das ist bei den berufstätigen Frauen und Müttern ganz anders, die automatisch immer in eine Doppelrolle geraten, nämlich Ernährerin und Erzieherin zu sein. Frau passt sich also der weiter fortschreitenden Entwicklung der Kinder kongruent an und Mann gerät in Panik, weil ihm dadurch offenbar wird, was schon die ganze Zeit Fakt war: Dass er im Grunde nur noch eine kleine Rolle in der Familie spielt. Gerritmen zahlte also den Preis für seine jahrelange menschliche Zurückhaltung in der Familie.
Plötzlich war da wieder diese unnennbare Angst in Gerd. Er hätte wirklich nicht sagen können, wovor oder vor wem er Angst gehabt hätte. Aber sie war da. Was war passiert? Eines dieser kleinen grauen Männchen hatte sich an ihn um Hilfe gewandt. Aber hatte er das wirklich? Wollte er Hilfe oder einen Zuschauer? Einen der immer zusehen musste, aber nicht eingreifen durfte?
"Lieber Gerd", hatte Hans bei einer ihrer letzten Supervisionen gesagt. "Wir nähern uns dem Punkt, von dem an wir die Begegnungen bestimmter Menschen prognostizieren können, wenn wir ihre Absichten und Beziehungen mit einkalkulieren. Wir können außerdem immer besser prognostizieren, wann ein Mensch anfängt, Tabugrenzen zu überwinden. Es können langsame Entwicklungen sein, es können traumatische Ereignisse sein. Irgendwann fängt so ein
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