Im Namen der Engel
Schwarz. Bree wusste, wessen Grab unter diesem Baum lag. Das von Josiah Pendergast. Sie trat einen Schritt vor und stolperte beinah über Sascha. Der Hund presste sich gegen ihre Knie und fletschte lautlos die Zähne.
Im oberen Teil der dunklen Säule erschienen zwei feurige Augen – so plötzlich, als sei gerade etwas erwacht. Die grässlichen Farben zogen sich zusammen. Dann löste sich ein dünner Auswuchs von der dunklen Masse und winkte sie zu sich.
Bree. Komm her .
Bree schob Sascha beiseite und trat noch einen Schritt vor. Und dann noch einen.
Plötzlich sah sie sich auf dem Gipfel eines Berges stehen. Zu ihren Füßen wogten Wolken. Und sie wusste, wusste mit jeder Faser ihres Wesens, dass das, was sie sich am meisten auf der Welt wünschte, zum Greifen nahe war. Wenn sie sich vorbeugte, weiter und weiter vorbeugte, würde sie vom Gipfel ins Leere fallen, um von den Flügeln des Kormorans aufgefangen zu werden. Um im Glauben zu landen, in einem absoluten, unerschütterlichen Glauben. Keine Fragen und Zweifel mehr. Nie mehr.
Der Wind wurde plötzlich stärker und peitschte die Baumwipfel hin und her. In diesem Augenblick flog die Tür des Hauses krachend auf, und Ron trat heraus. Tosend umkreiste ihn der Wind, und einen kurzen erschütternden Moment lang hatte Bree den Eindruck, der Wind käme aus seinen ausgebreiteten Handflächen. »Sie sind noch hier, Bree?«
Der tosende Wind flaute ab und erstarb. Die dunkle Säule unter der Eiche erbebte und löste sich in nichts auf.
Bree atmete tief durch. Ron sprang die Treppe hinunter und kettete sein Fahrrad vom Zaun los. »Ich würde Ihnen ja anbieten, Sie mitzunehmen«, sagte er, »aber für Sascha wäre kein Platz mehr. Ach du grüne Neune.«
Bree suchte an Saschas Nacken Halt. »Wie altmodisch … Das sagt doch heute kein Mensch mehr, Ronald«, stellte sie mit ruhiger Stimme fest. Ihre Handflächen waren feucht, ihr Herz klopfte wie wild, aber zumindest ihre Stimme klang fest. »Was ist denn los?«
»Hab einen Platten.« Er griff nach der Fahrradpumpe, setzte sie an und pumpte munter drauflos. »Kommen Sie nicht zu spät zu Ihrer Verabredung?«
Bree starrte bestürzt auf ihre Armbanduhr. »Du lieber Himmel. Molly McPherson’s ist am City Market, nicht wahr?«
»Ja.«
»Dann kann ich es gerade noch schaffen, vorausgesetzt, ich finde einen Parkplatz.« Sie packte Sascha auf den Rücksitz und nahm auf dem Fahrersitz Platz. Ron gab ihr von draußen ein Zeichen. Sie kurbelte das Fenster herunter, und er beugte sich zu ihr herein. Sein Atem duftete nach einem Gewürz, das sie nicht zu identifizieren vermochte. »Hey«, sagte er. »Die können den Lebenden wirklich nicht viel anhaben, wissen Sie. Aber Sie dürfen auf keinen Fall hingehen, wenn Sie ge rufen werden. Wenn das noch mal passiert, müssen Sie bleiben, wo Sie sind. Sie dürfen nicht von diesem Berg springen. Kapiert?« Er klatschte gegen den Fensterrahmen und trat zurück. »Geben Sie Payton der Ratte ordentlich Zunder!«
Sie beobachtete, wie er mit seinen langen Beinen in die Pedale trat und davonfuhr. Dann atmete sie zittrig durch und ließ den Motor an.
Es gelang ihr, in der Nähe des Marktplatzes einen Parkplatz zu finden. Bei Molly McPherson’s konnte man auch im Freien sitzen, in der Nähe des Brunnens, der in der Mitte des Platzes stand. Bree war froh, dass sie Sascha mitnehmen konnte. Die Anwesenheit des Hundes hatte etwas ungemein Beruhigendes. »Und«, sagte sie, während er an der Leine neben ihr herhumpelte, »ich hätte überhaupt nichts dagegen, wenn du Payton auf die Schuhe pinkeln würdest.«
Sascha grinste mit heraushängender Zunge zu ihr hoch.
»Du kannst ihn daran erkennen, dass er einen Dreitagebart hat und sich total cool gibt. Aber das mit Paytons Schuhen …«, sie zog einmal kurz an der Leine, » … habe ich nicht ernst gemeint, Sascha.«
Bree hätte John Stubblefield auch dann erkannt, wenn Payton nicht ehrfürchtig neben ihm gesessen hätte. Zum einen wurde regelmäßig im Fernsehen über ihn berichtet, wenn er es wieder einmal geschafft hatte, Schadenersatzforderungen in Rekordhöhe durchzusetzen. Zum anderen war er der Star der widerwärtigen, spätabends gezeigten Infomercials, in denen um Kläger geworben wurde, um Sammelklagen gegen große reiche Unternehmen zu inszenieren. Mit Klagen gegen Unternehmen, die weniger als eine Milliarde schwer waren, gab er sich gar nicht erst ab, mochte der Zustand des betreffenden Opfers auch noch so bedauernswert
Weitere Kostenlose Bücher