Im Namen der Gerechtigkeit - Roman
übliche Berichterstattung. Doch als ich in der Via Padova ein paar Fragen stellte, zeigte sich, dass kein Mensch an die offizielle Version glaubte. Wissen Sie, in diesem Viertel kennt man sich nach einer Weile, und es wird viel geredet. Ich habe mich bei dem Fleischer erkundigt, bei dem Khaled einkaufte. Ich habe in der Bar nachgefragt, in der er sich mit seinen Freunden traf. Und ich habe mit dem Tabakhändler gesprochen, bei dem er seine Zigaretten kaufte. Niemand glaubte diese Version. Khaled sei niemals fähig, jemanden anzugreifen.» Sie hielt einen Moment inne und biss in den Hamburger. «So weit erst mal nichts Besonderes, nicht wahr? Es kann schon mal vorkommen, dass jemand, der über jeden Verdacht erhaben ist …»
«Ja», sagte Doni, «das kann vorkommen.»
«Aber es kommt nicht so oft vor wie im Film.»
«Nein. So oft nicht.»
«Haben Sie Der Mann, der den Zügen nachsah gelesen?»
«Nein.»
«Das ist ein Roman von Simenon. Es geht darin um einen holländischen Angestellten, einen normalen Familienvater mit einem sicheren Job, der eines Nachts durchdreht und zum Mörder wird. Er verschwindet nach Paris, ermordet versehentlich eine Prostituierte, taucht unter, gerät ins Verbrechermilieu und so weiter. Also, ich glaube so was eigentlich nicht. Zumal Khaled kein Blutbad angerichtet hat.»
Doni sagte nichts. Er aß.
«Demnach», fuhr sie fort, «ist es wohl am naheliegendsten, dass man ihn bedroht und gezwungen hat, das zu tun, was er getan hat. So sehr Khaled allgemein auch als anständiger Mann gilt, es spielt hier keine Rolle. Richtig?»
«Richtig.»
Elena zog ein Notizbuch aus ihrer Tasche und begann darin zu blättern.
«Darum bin ich der Sache tiefer auf den Grund gegangen. So weit mir das möglich war, habe ich anhand verschiedener Hinweise sein Leben und seine Gewohnheiten rekonstruiert.» Sie biss erneut in den Hamburger, und während sie kaute, las sie vor: «Khaled lebt seit sechs Jahren in Mailand. Er hat eine Aufenthaltsgenehmigung und arbeitete auf einer Baustelle. Sein Chef hat mir versichert, dass es nie Probleme mit ihm gab und er ein guter Arbeiter ist. Er wohnte mit seiner damals arbeitslosen Schwester zusammen, mit der ich seit einer Weile in Verbindung stehe.» Sie schaute kurz auf. «Ich will nicht behaupten, dass wir Freundinnen sind, doch ich greife ihr ein wenig unter die Arme, und manchmal essen wir abends zusammen. Wir wohnen nicht weit voneinander entfernt. Jedenfalls war Khaled abends mit den verschiedensten Leuten zusammen, und natürlich kam er in seiner ersten Zeit in Italien auch mit Dealern in Kontakt oder hat selbst Haschisch verkauft, doch er gehörte nie einer kriminellen Organisation an. Er ist praktizierender Muslim, aber ohne jeden extremistischen Hintergrund. Er ging oft in eine Spielhalle in seiner Wohngegend und aß dreimal in der Woche mit seiner Schwester in einem Dönerladen, der von seinen Freunden geführt wird. Na und so weiter.»
Sie klappte das Notizbuch zu. Doni bemerkte, dass er gar nicht zugehört hatte.
«Einverstanden. Wer sind die Leute, die Sie mir vorstellen wollen?», fragte er.
«Vor allem seine Schwester und zwei seiner Kollegen von der Baustelle.»
«Und was haben sie so Außergewöhnliches zu sagen?»
«Für den Anfang könnten sie Ihnen Khaled und seine Welt näherbringen.»
Doni schob seinen Teller ein paar Zentimeter von sich und seufzte.
«Das ist nicht sonderlich von Belang. Das Urteil richtet sich nach den Fakten. Personen und Lebensumstände werden nur bei der Höhe des Strafmaßes berücksichtigt.»
«Ich weiß. Aber Sie können auch nicht ausschließen, dass für das Urteil wichtige Sachverhalte zum Vorschein kommen könnten.»
«Die zu suchen ist nicht meine Aufgabe, Signorina. Wie ich Ihnen schon sagte, ich bin hier der Böse.»
Sie seufzte.
«Es gibt da noch jemanden, der, wie ich hoffe, mit Ihnen sprechen wird. Es ist ein Freund von Khaled, der an besagtem Abend mit ihm zusammen war.»
Doni setzte zu einer Antwort an, schloss dann aber den Mund und begnügte sich mit einem Nicken.
«Ich kann mir vorstellen, dass die Aussage, Khaled sei mit bestimmten Personen zusammen an einem bestimmten Ort gewesen und eben nicht in der Via Esterle, von einiger Bedeutung ist.»
«Das ja, zweifellos. Aber …»
«Ja, natürlich», kam sie ihm zuvor. «Nicht ohne offiziell für die Beweisführung eingereicht zu werden. Doch das ist ja gerade der springende Punkt. Sagen wir, ich bitte Sie im Namen der wahren Gerechtigkeit
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