Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Im Namen der Gerechtigkeit - Roman

Im Namen der Gerechtigkeit - Roman

Titel: Im Namen der Gerechtigkeit - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nagel & Kimche AG
Vom Netzwerk:
rein intellektuelles Vergnügen war. Doni genoss die Musik durchaus, doch er war sich auch bewusst, dass sie seinem Wesen nicht entsprach und dass sie mit seiner Biographie zusammenhing: mit der Notwendigkeit in jungen Jahren, bei Claudia Eindruck zu schinden.
    Ende der siebziger Jahre war sie eine durchschnittliche Violinistin am Konservatorium gewesen – das fehlende Talent hatte sie mit einer enormen Willenskraft kompensiert –, und Doni hatte gar nicht anders gekonnt, als sich ihrer Leidenschaft anzuschließen.
    Während die Mozartsonate verklang, dachte Doni an dieses schüchterne, nachgiebige Etwas zurück, das er gewesen war, und empfand einigen Widerwillen dabei. Er hatte damals keine Träume gehabt, keine Wünsche, und sich darauf beschränkt, Claudia zu begehren, als läge darin alles Glück verborgen. Und um sie zu bekommen, lernte er. Er hatte sich Schönbergs Harmonielehre gekauft, und abends, wenn sein Bruder sich mit seinen Eltern stritt oder den Rucksack für eine seiner Reisen packte, las er darin, ohne ein Wort zu verstehen.
    Aber was hatte er denn sonst schon? Eine normale Familie, ein normales Studium, ein gutes Gespür und viel Methodik. Er war ein Kind seiner Zeit, so wie Elisa ein Kind ihrer Zeit war, so intelligent, dass sie weglaufen musste, um sie zu erobern.
    Jahrelang war Doni genügsam und anspruchslos gewesen. Der Mann, der fettfrei isst, hatte Claudia ihn lachend genannt. Alles sollte einem Ziel geopfert werden – dem, das ihm als seine Überzeugung gegeben war: das Leid verringern und die Möglichkeiten maximieren. Das war seine Aufgabe in der Welt, die Aufgabe aller Männer, die kurz nach dem Krieg geboren waren. Eine Familie gründen. Bescheiden lieben. Den Anstrengungen der Väter zum Recht verhelfen.
    Doch heute war das anders. Ganz als hätten sich seine Wünsche im Laufe der Jahre verschärft. Wann hatte das begonnen? Zeitlich konnte er das nicht festmachen, doch eines war klar: Inzwischen befriedigte es ihn zutiefst, wenn man ihm gehorchte und wenn er die Carabinieri oder weniger erfahrene Kollegen seine Macht spüren ließ.
    Mit seinem Körper, der noch behende und schlank wie der eines jungen Mannes war, fing er seit Jahren nichts mehr an. Der Kopf war es, der noch eine Weile den Ton angeben sollte, und dies, um genau das Gegenteil dessen zu tun, was Doni in seiner Jugend unter Glück verstanden hatte: um jeden Appetit zu befriedigen und satt ans Ende zu kommen.
    Er wickelte eine Praline aus, legte sie sich auf die Zunge und ließ sie langsam zergehen.
    In der sonderbaren Leere, die auf jede Aufführung folgt – Musik entsteht aus der Stille und kehrt in die Stille zurück, das ist ein Mysterium, hatte einer von Claudias Lehrern gesagt –, wechselten der junge und der alte Doni einen Blick und liefen in die entgegengesetzten Richtungen davon – in die Vergangenheit und in die Zukunft.
    Wenig später verließ er das Haus, um spazieren zu gehen. Der Himmel war noch frisch und blau, vom Wasser blank gewaschen, doch auf den Straßen herrschte schon wieder das typische, zusammenhanglose Treiben. Leute, die an den Ampeln standen und unbemerkt ihren Vordermann streiften. Leute, die ihr Auto aufheulen ließen und hinter ihrer Sonnenbrille lächelten. Leute, die Eis kauften, Kinderwagen schoben und am Telefon zeterten. Leute eben.
    Doni aß gegen Mittag in der Crocetta-Bar, das x-te Brötchen seines Lebens, nur dass es fettiger und teurer war als sonst. Samstags war alles erlaubt, und so bestellte er auch ein Guinness. Das hatte er schon lange nicht mehr getrunken.
    Nach der Irlandreise mit Claudia zwei Jahre zuvor konnte er die Brühe, die in den italienischen Pubs als Guinness verkauft wurde, eine ganze Weile nicht mehr trinken. Der Aufenthalt in Irland (die dort vom Klima vorgegebene Langsamkeit, die Harmonie der Landschaft) hatte ihm so sehr gefallen, dass er Claudia auf dem Rückflug vorgeschlagen hatte, nach der Pensionierung in ein kleines Dorf an der Küste zu ziehen. Sie hatte ihn ausgelacht.
    Nach dem Essen ging er zielgerichtet ins Zentrum und bog nach Westen in die Nebenstraßen der Via del Carroccio ab. Als er nach einigen Hundert Metern müde wurde, nahm er die Straßenbahn, die ihn in einem Bogen an sein gewünschtes Ziel brachte, zum Corso Magenta.
    Dort gab es eine alte Mailänder Schneiderei, zu der schon sein Vater gegangen war und vielleicht auch sein Großvater. Seit einiger Zeit hatte sie auch an zwei Samstagen im Monat geöffnet, und Doni nutzte die

Weitere Kostenlose Bücher