Im Namen der Gerechtigkeit - Roman
Was halten Sie davon, wenn wir in der Nähe ein Brötchen essen gehen? Meine Zeit ist äußerst knapp bemessen, doch da mir Ihr Anliegen sehr dringlich zu sein scheint, will ich mal eine Ausnahme machen.»
«Wirklich?», fragte die Journalistin.
«Ja.»
«Danke! Danke, Sie wissen ja nicht, wie wichtig das ist.»
«Eine halbe Stunde, nicht länger. Und ich werde nichts weiter tun als zuhören.»
«Natürlich.»
Doni nickte. Er drehte sich um, weil er nach seinem Mantel greifen wollte, beschloss dann aber, ihn im Büro zu lassen.
Der Oberstaatsanwalt und die Journalistin gingen zusammen durch die Flure des Justizpalasts.
5
DER FALL GHEZAL , wie die Journalistin ihn genannt hatte, war ein Berufungsprozess, der in zwanzig Tagen stattfinden sollte. Nicht seltsamer und auch sonst nicht anders als das, was Doni in fast vierzig Jahren Arbeitsleben bereits gesehen hatte. Das Böse war weder banal noch originell, hatte er irgendwann gedacht, es war einfach immer dieselbe Geschichte – Menschen, die etwas haben wollen, was sie nicht bekommen können.
Im Kleinen waren es Schläger in irgendeinem abgelegenen Dorf in Venetien oder im Latium, die ihre der Untreue bezichtigten Frauen blutig prügelten. Im Großen waren es riesige Verbrecherorganisationen, die kein Detail und nicht das kleinste bisschen Macht ausließen, um sich zu reproduzieren und überall zuzuschlagen. Doch nach Donis Ansicht waren das nur Unterschiede in den Dimensionen und nicht dem Wesen nach. Das Böse war böse, so oder so.
Aus diesem Blickwinkel konnte der Fall Ghezal nur jemandem schrecklich erscheinen, der nicht wie Doni und seine Kollegen an so etwas gewöhnt war. Das machte ihn an sich natürlich nicht weniger schrecklich oder moralisch leichter zu handhaben. Doch es stellte ihn in einen Zusammenhang, in eine nicht enden wollende Kette von Übergriffen, auf die sich das gemeinschaftliche Leben gründete, das war der Preis, der für jeden Augenblick der Ruhe gezahlt werden musste. Diese Sichtweise war bitter, doch Doni hatte längst gelernt, dass Egoismus den Lauf der Welt lenkte.
Und jedes Mal, wenn er die Akten prüfte, war es, als dächte auch sein Kopf in knapper Chronistenmanier. Die Fakten waren unverblümt, weil auch das Böse unverblümt war, es sprach die lebendigste aller Sprachen, die simpelste und universellste. Auch deshalb, dachte er, waren sie immer im Präsens geschrieben. Sie hörten nicht auf zu sein.
Auch diesmal kehrte er gedanklich ins Präsens zurück.
Am 9 . Oktober gegen halb neun Uhr abends überfallen in der Via Esterle, einer Querstraße der Via Padova, drei Immigranten einen Italiener und seine Freundin.
Der Italiener heißt Antonio dell’Acqua: achtundzwanzig Jahre alt, nicht vorbestraft, Verkäufer in einem Telefonshop in Cinisello Balsamo. Das junge Mädchen stammt aus bürgerlichen Verhältnissen: dreiundzwanzig Jahre alt, Studentin an der Mailänder Universität IULM , wohnhaft an der Piazza Cavour. Name: Elisabetta Medda, Tochter des Unternehmers Giancarlo Medda.
Antonio raucht regelmäßig Haschisch und kauft bei einigen Tunesiern vom Viale Monza gelegentlich ein paar Gramm zusätzlich für Freunde. Seiner Aussage zufolge hat er Mitte September wesentlich mehr als sonst gekauft.
Gerechtfertigt wird dies mit einer großen Party in Cinisello. Auf jeden Fall hat er sich reichlich eingedeckt, überzeugt davon, alles, was zu viel ist, sofort weiterverkaufen zu können. (Vielleicht spielte er auch mit dem Gedanken, selbst einen kleinen Handel aufzubauen.)
Doch die vermeintliche Party fällt aus, die Kunden lassen sich nicht blicken, Antonio bleibt auf zweihundert Gramm Rauchware sitzen. Von seinen Ersparnissen hat er nur einhundert Gramm bezahlt, für den Rest hat er Schulden, die er innerhalb von zehn Tagen begleichen soll. Eintausend Euro, wo soll er die hernehmen? Seine Mutter ist auf Kurzarbeit, und seine Freunde haben ihm schon zu oft Geld geborgt.
Er beschließt, die Gegend zu meiden und sich am Zahltag nicht blicken zu lassen. Niemand ruft ihn an – er hat dem Dealer seine Handynummer gegeben –, und damit scheint die Sache erledigt zu sein. Er will sich im nächsten Monat in Ruhe darum kümmern.
Am 9 . Oktober verlassen Antonio und Elisabetta ihre Wohnung, um in eine Pizzeria in der Via Palmanova zu fahren, die von einem Freund des jungen Mannes geführt wird. Sie parken in der Via Esterle, einer schlechtbeleuchteten Seitenstraße. Nach wenigen Schritten kommen drei Nordafrikaner auf sie zu. Sie
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