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Im Namen der Gerechtigkeit - Roman

Im Namen der Gerechtigkeit - Roman

Titel: Im Namen der Gerechtigkeit - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nagel & Kimche AG
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Gelegenheit, um einen grauen Anzug aus gefilzter Schurwolle anzuprobieren. Das Geschäft hatte trotz seiner Lage nichts Elegantes, im Gegenteil, es hatte seine ursprüngliche Nüchternheit behalten. Nur wenige Kleidungsstücke, ein Familienbetrieb und zwei etwa fünfzigjährige Verkäuferinnen im Rock – keine jungen Mädchen in ausgewaschenen Jeans, kein alberner Schnickschnack.
    Während Doni darauf wartete, dass das Geschäft zum Nachmittag wieder öffnete, trank er in einer Bar in einer Seitenstraße den dritten Kaffee. Um diese Zeit war sie fast menschenleer. Doni setzte sich ins Freie an einen schmiedeeisernen Marmortisch und überlegte, wie er sich wohl als Pensionär fühlen würde: stolz darauf, seine Aufgabe in der Welt erfüllt zu haben, und mit einem Bein schon im Grab.
    «Ist das Ihre Zeitung?», fragte ihn ein junger Mann.
    Doni sah, dass auf dem zweiten Stuhl an seinem Tisch eine Ausgabe des Corriere della Sera lag.
    «Nein», sagte er.
    «Kann ich sie haben?»
    «Bitte.»
    Doni schaute ihm einen Moment nach, dann schloss er gedankenverloren die Augen und lauschte den Geräuschen des Tages: dem Rascheln der Zeitung in den Händen des jungen Mannes, dem Klappern von Gläsern und Besteck, einem Alten, der in die geschlossene Faust hustete. Die ganze Stadt eine einfache Klangepisode, die immer wieder neue, unfehlbare Ballade, die Mailand ihm schenkte.
    Dann öffnete die Schneiderei. Kaum war er eingetreten, schenkte der Besitzer ihm ein Lächeln, das wohl eher selten war: «Dottore, guten Tag! Wie schön, Sie wiederzusehen. Womit können wir Ihnen dienen?»
    Auch Doni lächelte. Das war es, was ihm zustand. Ein serviler Kaufmann und alle Zeit der Welt, um zu entscheiden, ob er einen Anzug für eintausenddreihundert Euro kaufen sollte oder nicht.
    Das stand ihm zu, dieses Privileg, einfach so, in wenigen Minuten, so viel Geld zu verjubeln wie seine Tochter in einem Monat verdiente. Es war absurd, doch das spielte keine Rolle. Zehn Minuten später, als er sich im Spiegel betrachtete, geriet der Tag in Gefahr. Er hörte sein Telefon klingeln, das er zusammen mit seiner Hose in der Ankleidekabine gelassen hatte. Er kramte herum und fand es, kurz bevor das Klingeln aufzuhören drohte. Es war Claudia.
    «Heute Abend sind wir zum Essen bei meinem Vater», sagte sie. «Sei doch so gegen sechs wieder zu Hause.»
    Doni steckte das Telefon zurück in die Hosentasche und fuhr sich mit der Hand übers Gesicht.

8
    CLAUDIAS MUTTER WAR einige Jahre zuvor bei einem Unfall ums Leben gekommen, und ihr Vater hatte die Wohnung in Porta Genova verkauft, um in ein lausiges Reihenhaus kurz vor Mailand, in der Nähe von Chiaravalle, zu ziehen. Früher mochte das eine schöne Gegend gewesen sein, doch jetzt kreuzten sich dort die Osttangente und der Zubringer der Autostrada del Sole. Eine Ansammlung von Feldern ohne Poesie, verlassenen Gehöften voller illegaler Einwanderer und Prostituierten aus Afrika, wilden Mülldeponien und Friedhöfen.
    Trotzdem war Claudias Vater begeistert davon. Er behauptete, den Kontakt zur Natur wiedergefunden zu haben. Seit kurzem entwickelte er zudem ein fanatisches Interesse für Namen und Bezeichnungen. Er hatte sich ein Dutzend Wörterbücher gekauft und verbrachte Stunden damit, die Etymologie der banalsten Wörter zu rekonstruieren, als könnte ihn das endgültig zum Kern dessen bringen, was er erlebt hatte, womöglich als eine Art Schlüssel zum Schrein der Vergangenheit oder als Zugang zu dem Begriff, der ihn retten konnte, zu einem Zauberwort, verborgen in den Falten dessen, was einmal gewesen war.
    Sein Leben lang hatte er eine große Schuhfabrik unweit der Stadt, in Cesano Boscone, gehabt. Und nun lernte er jeden Eintrag des Wörterbuchs auswendig und studierte jedes Detail mit andächtiger Sorgfalt. Er prägte sich ganze Sätze und Definitionen ein, eine tote, verkrüppelte Sprache im Mund eines Toten, der nicht weichen wollte. Ein Wort und dann noch eines, und jedes Mal, wenn Doni ihn sah, saß er mit seiner Schachtel Zigaretten da – er rauchte seit siebzig Jahren, früher Muratti und jetzt, um es nicht zu übertreiben, Marlboro Lights – und mit ein paar neuen Etymologien. Aus irgendeinem Grund und gegen jede biologische Logik hielt sein Gehirn durch. Er klammerte sich in der Hoffnung an die Wörter, dass mit ihnen auch die benannten Dinge unversehrt blieben, und auch sein Körper.
    Für Claudia war das eine sympathische, geradezu geheimnisvolle Art zu altern. So entdeckte sie an

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