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Im Namen der Gerechtigkeit - Roman

Im Namen der Gerechtigkeit - Roman

Titel: Im Namen der Gerechtigkeit - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nagel & Kimche AG
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ihrem Vater eine sanfte Seite, die ihr bis dahin unbekannt gewesen war. Dieser alte, von Buchstaben besessene Herr war derselbe, der ihr hatte verbieten wollen zu musizieren, der sie in ein Mädcheninternat gesteckt hatte und der Geld in einer Auseinandersetzung für den einzig gültigen Wertmaßstab hielt, «weil man es in der Hand halten kann», wie er sagte, wobei er seine Fingerspitzen aneinanderrieb.
    Claudia zufolge fand er nun zu einer Unschuld, die er nie besessen hatte.
    Doni zufolge verkalkte er nun bloß endgültig.
    Das Abendessen war reichlich trostlos. Der alte Mann hatte im einzigen Restaurant in der Nachbarschaft Unmengen von Kalbfleisch in Thunfischsauce gekauft und es sich einige Stunden zuvor liefern lassen. Die mit Aluminiumfolie abgedeckten Plastikschalen standen bereits auf dem Tisch. Er servierte das Essen zusammen mit rotem Perlwein.
    Doni war angewidert und tat nichts, um das zu verhehlen. Claudia bemühte sich, zwischen den beiden Männern zu vermitteln, die sich im Übrigen ganz einfach ignorierten. Beide sprachen über unterschiedliche Dinge mit ihr, und sie antwortete ihnen abwechselnd.
    Nach drei Gläsern Wein begann der Alte zu schwafeln.
    «Vor kurzem habe ich die einfachsten Wörter nachgeschlagen. Das Geheimnis liegt in der Einfachheit, das habe ich schon immer gesagt, auch zu meinen Mitarbeitern in der Firma. Wenn du etwas mit einfachen Mitteln machen kannst, dann mach es auch so und belass es dabei. Man fängt mit dem Einfachen an und hört mit dem Einfachen auf. Also, ich meine nur mal so. Erba , Gras, nur so, zum Beispiel. Also. Wisst ihr, wo das Wort herkommt? Im Lateinischen heißt es ferba und im Griechischen phorbè , Weide, Viehfutter. Doch der Ursprung liegt noch weiter zurück: pharb , vom sanskritischen bharv , was so viel wie ‹kauen› heißt. Es gibt noch einen Ausdruck, er fällt mir nicht mehr ein, aber der hat auch diesen Stamm und bedeutet ‹wohlgenährt› oder so was.» Er kratzte sich an der Nasenspitze und starrte ins Leere. «Und davor noch bhar , ‹tragen›. Aber natürlich gibt es auch abweichende Theorien. Für jedes Wort eine Theorie. Ah, das ist alles hochinteressant, hochinteressant.» Er schaute nach unten und berührte feierlich den Tisch, mit der Miene eines Menschen, der nach einer Amnesie dem Leben zurückgegeben wurde, oder eines Wilden, der einen nie gesehenen Gegenstand entdeckt, ein Stückchen Technik, das im Urwald gelandet ist: « Tovaglia , Tischtuch», sagte er. «Das ist auch so ein einfaches Wort. Bei denen muss man anfangen, versteht ihr? Das Wort kommt aus dem Deutschen, aus dem Mittelalter, dwahilla oder twahilla , Tuch zum Abtrocknen, und von daher das ursprüngliche Verb, dwahan , waschen. Versteht ihr?»
    «Ich weiß nicht, was das soll», sagte Doni.
    Darauf der Alte: «Wie, du weißt nicht, was das soll?»
    «Ich meine, ja, ich weiß jetzt, dass das Wort erba von einem Wort aus dem Sanskrit abgeleitet wird. Na und? Was lerne ich daraus?»
    «Gütiger Himmel! Du lernst seinen Ursprung kennen!»
    «Sicher, aber was gibt mir das Neues im Verhältnis zu dem, was ich schon wusste? Welche Geheimnisse werden da aufgedeckt? Es verschiebt das Problem bloß einen Schritt zurück.»
    «Aber hör mal, mit dem Ursprung fängt doch alles an.»
    «Ja, aber was nützt mir das im konkreten Leben?»
    Der Alte schüttelte lächelnd den Kopf, als wäre Doni der größte Idiot auf Erden. Dieser verzichtete auf eine Diskussion, so wie er es immer tat: zwei, drei Antworten, um Interesse zu bekunden, und dann sollte er doch zum Teufel gehen, mitsamt seinen Etymologien.
    Claudia nahm noch ein Stück Kalbfleisch aus der Plastikschale, und der Alte sprach mit monotoner Stimme weiter. Doni hörte nicht mehr zu. Er schnappte nur an der Oberfläche der ständig gleichen Rede einige Begriffe auf, die noch seltsamer als die anderen waren, ein paar Brocken, die der Alte unbedingt wiederaufleben lassen wollte und die er mit seiner Mailänder Aussprache verunstaltete.
    Doni starrte seinen durch Krankheiten im Laufe der Zeit entstandenen Kropf an. Der Alte war zweiundneunzig. Sein Körper hatte etwas Unwürdiges, etwas, was Gott nicht hätte zulassen dürfen. Er war klein, doch Bauch und Gesicht waren riesig und die Arme dünn. Bei jeder Silbe spuckte er, und seine Hände zitterten in einem fort. Er kleidete sich wie ein betrunkener Holzfäller und stand dermaßen mit der Körperhygiene auf Kriegsfuß, dass sich sogar seine Pflegerin ständig bei Claudia

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