Im Namen der Gerechtigkeit - Roman
einen Unfall gehabt hatte. Elisa sei von einem Auto angefahren worden, erklärte sie, und nun im Krankenhaus, und tja, also, mehr könne sie nicht sagen, doch sie werde so bald wie möglich wieder anrufen.
Doni und Claudia blieben die ganze Nacht auf und hatten nicht einmal die Kraft, sich zu umarmen. Vier Stunden später klingelte das Telefon erneut. Wieder war die Mitbewohnerin am Apparat, und sie versicherte ihnen mit deutlich kräftigerer Stimme, dass alles in Ordnung sei, Elisa habe sich nur ein Bein gebrochen.
In jener Nacht begriff Doni, dass der Tod weder das ruhige Einschlafen war, das seine Eltern dahingerafft hatte, noch dass er den vielen Formen von Gewalt und Grausamkeit entsprach, mit denen er im Laufe der Jahre zu tun gehabt hatte und die er im Rahmen seiner bescheidenen Möglichkeiten angeprangert und eingedämmt hatte. Nie hatte er ihretwegen so gelitten, wie er es nun wegen Elisa tat, als er sich das Schlimmste ausmalte – den Tod unter dem Skalpell und Claudia, die gestützt werden musste, die Überführung des Leichnams nach Italien und dazu die ganze Bürokratie, die er nur zu gut kannte.
In diesen vier Stunden begriff Doni, dass der Tod ein Anruf war, so wie er vor vielen Jahren begriffen hatte, dass der Tod ein Bild im Fernsehen war. In seinem Kopf brach sich die Vorstellung Bahn, dass es etwas geben müsse, was gegen diesen Anruf und gegen dieses Bild ankämpfen konnte. Irgendetwas. Ein Stück seiner selbst, das notfalls überleben und ein richtiges Wort weitergeben konnte.
Er ging zum Anfang des Dokuments und las zum x-ten Mal:
Ich, Roberto Doni, schreibe dies im Alter von fünfundsechzig Jahren nieder. Ich bin Staatsanwalt in Mailand, derzeit am Berufungsgericht, und lebe mit meiner Frau Claudia in einer Wohnung in der Via Orti.
Ich schreibe dies nicht nur, um für den Fall meines Ablebens Verfügungen über mein Hab und Gut zu treffen (abgesehen von einigen Präzisierungen habe ich dem, was das Gesetz vorschreibt, im Grunde nicht viel hinzuzufügen), sondern auch, weil ich meine Gedanken und Überzeugungen festhalten möchte.
Zuallererst möchte ich erklären, dass ich ein rechtschaffener Mann gewesen bin und stets ehrlich gearbeitet habe, gestehe an dieser Stelle jedoch auch meine Grenzen ein: Ungeduld gegenüber jemandem, der etwas nicht versteht; der im Laufe der Jahre gewachsene Wunsch, Karriere zu machen; die Sucht und die Freude, Geld auszugeben, die ich früher überhaupt nicht hatte, und noch einiges, dessen Aufzählung einer größeren Sorgfalt bedürfte.
Doch alles in allem bin ich ein rechtschaffener Mann. Ich versuche stets, meine Sache gut zu machen. Das hängt mit einem Credo zusammen.
Nun kam seine Lieblingsstelle:
Mein Credo ist sehr schlicht. Ich glaube daran, dass es ein Licht gibt, eine Flamme. Diese Flamme ist die Gerechtigkeit, und wir müssen sie mit unseren Händen vor dem Wind schützen. Dieses Bild ist banal, doch ich bin kein Literat, und abgesehen davon bin ich der Ansicht, dass Banalität in diesem Fall eine Tugend ist, ein Weg, um weiterzukommen. Es gibt ein Licht außerhalb von uns, an einem oftmals fernen, doch stets erreichbaren Ort, und dieses Licht heißt Gerechtigkeit.
Sie abstrakt zu definieren ist unmöglich. Wir müssen uns auf ihre konkrete Definition beschränken, also auf die Befolgung der Gesetze, die uns an die Hand gegeben sind.
Gewiss, Recht und Gesetz können beträchtlich auseinanderklaffen, doch in diesen dunklen Zeiten kann die Befragung des ersten im Verhältnis zum zweiten nur zurückstehen: Das hat mich der Terrorismus gelehrt, der mir, unter anderem, auch einen Freund genommen hat.
Weitere Überzeugungen habe ich zu diesem Thema nicht, ausgenommen den Glauben an Helden. Vor Jahren habe ich einen Artikel über Paolo Borsellino geschrieben. Damals war ich Staatsanwalt in den Marken, und die Mafiamorde erschütterten mich tief. Der Artikel wurde in einer Zeitung veröffentlicht. Ich schrieb nichts Weltbewegendes, ich wollte einfach darauf aufmerksam machen, wie wichtig Helden für die Welt sind. Sie sind notwendig. Das ist schon alles: Die Welt muss gerettet werden, und dies im gegebenen Augenblick.
Das Telefon klingelte, und unwillkürlich schloss Doni die Datei.
«Hallo?»
«Ciao, Roberto, hier ist Salvatori.»
«Michele, wie geht es dir?»
«Mir? Gut», sagte Salvatori. «Und dir?»
«Ich kann nicht klagen. Was treibst du so?»
Salvatori ließ einen Moment verstreichen, so als wüsste er nicht, was er antworten sollte.
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