Im Namen der Gerechtigkeit - Roman
sein, dass du mir nie, wirklich nie, recht geben willst? Schlimmer als mein Vater, Herrgott noch mal. Ich versuche dir was zu erklären.» Sie hustete. «Ich versuche dir meine Meinung über etwas mitzuteilen, über das ich hundertprozentig Bescheid weiß, über einen Weg, den ich tausendmal öfter gefahren bin als du.» Sie hustete und hustete. «Und du», erneutes Husten, «nichts! Immer musst du recht behalten!»
Doni blieb der Mund offen stehen.
«Aber Claudia», sagte er.
«Lass mich in Ruhe.»
«Claudia, was habe ich denn gesagt?»
Sie hustete eine halbe Minute ununterbrochen, so dass Doni besorgt am Straßenrand hielt. Sie krümmte sich, noch immer angeschnallt, als wäre der Sicherheitsgurt das Einzige, was sie mit der Welt verband. Endlich ließ der Anfall nach, und sie atmete tief durch.
«Entschuldige», sagte sie. «Wirklich, entschuldige.»
Doni wusste nicht, was er sagen sollte. Er schwieg. Sie schaltete das Licht über dem Rückspiegel ein, besah ihre Hände, als könnte Blut daran sein, fand nichts, knipste das Licht wieder aus und starrte nun ausdruckslos vor sich hin.
«Lass uns bitte nach Hause fahren.»
Doni bog links ab, wie Claudia es ihm geraten hatte, und drückte, so heftig er konnte, aufs Gaspedal, während über der Stadt endgültig die Nacht hereinbrach.
9
DIE DATEI , die er im Büro auf dem Bildschirm hatte, war ein Word-Dokument mit dem Namen Testament . Er hatte sie vor einigen Jahren angelegt, und wenn er niedergeschlagen war, brachte er sie mit kleinen Änderungen auf den neuesten Stand.
Mit der Zeit war das Dokument angewachsen, es hatte sich verzweigt und wie eine Wurzel in die Vergangenheit gegraben, so dass es nun einer kleinen, moralischen Autobiographie glich, durchnummeriert von eins bis fünfzehn. Je mehr Doni sich für diese Worte erwärmte und je mehr die Verfügungen in den Hintergrund traten, um Erinnerungen und Gedanken allgemeiner Art über das Leben zu weichen, umso stärker verdrängte die Angst, nicht verstanden zu werden, die praktischen Erwägungen.
Seiner Ansicht nach gab es nur zwei Gründe, weshalb ein Mensch wie er sich daran machte, einen solchen Text zu verfassen. Der eine lag lange zurück, der andere war neueren Datums.
Der erste ging auf das Jahr 1981 zurück. Es waren die letzten Monate in Ancona, und er steckte in den Vorbereitungen für den Umzug nach Gallarate. Elisa war zwei Jahre alt, und Doni war so glücklich, daß er diesen Zustand nicht einmal genau benennen konnte: Freude war er nicht gewohnt. Er war nach Mailand gekommen, um seine Eltern zu besuchen und sich ein paar Wohnungen in der Stadt anzusehen, und hatte die Gelegenheit genutzt, um mit Giacomo Colnaghi zu Abend zu essen, einem alten Studienfreund, der nun Staatsanwalt war.
Sie waren immer eher vertraute Gefährten als dicke Freunde gewesen – unterschiedliche Leben und unterschiedliche Ansichten in fast allen Dingen: der atheistische Doni und der gläubige Colnaghi, der Sportmuffel Doni und der begeisterte Radfahrer Colnaghi – doch nun waren sie hier, verdammt noch mal: zwei Staatsanwälte um die fünfunddreißig, mit Risotto vollgestopft und beschwipst, wie sie Arm in Arm aus einer Trattoria am Naviglio Pavese kamen. Das Glück, für das Doni keinen Namen gefunden hatte, ließ sich mit diesem Spektrum von Details zusammenfassen: die Aquarellfarben des Abends, das verrufene, romantische Randgebiet des Viertels, zwei Katzen, die in einer Hofeinfahrt schliefen, und der erregende Duft des Sommers. Das war das Leben. Das und nichts weiter: ein Freund, eine Tochter, ein Plan.
Sechs Tage später wurde Giacomo Colnaghi von einer Gruppe, die den Roten Brigaden nahestand, mit drei Pistolenschüssen ermordet.
Doni erfuhr es in einer Bar, wo er einen frischgepressten Orangensaft trank, bevor er sich auf den Heimweg machen wollte. Er schaute auf, und in den abendlichen Fernsehnachrichten erschien Giacomos Bild, darunter verlas jemand ein Bekennerschreiben, und Doni schnappte die Worte katholische, christdemokratische Justiz und junge Richter, doch bereits Sklaven der Macht auf, er legte die Hände auf die Aluminiumtheke, und noch bevor er begriff, noch bevor ihm alles klar wurde, spürte er, wie ihm die Tränen über die Wangen in den Mund liefen.
Der zweite Grund lag zweieinhalb Jahre zurück. Doni und Claudia hatten nachts einen Anruf erhalten. In einem ungestümen Englisch, das Doni nur mühsam entschlüsseln konnte, teilte Elisas Mitbewohnerin ihnen mit, dass ihre Tochter
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