Im Namen der Heiligen
Morgendämmerung, mit schwarzen Flecken gesprenkelt. Er zog einen Armknochen hervor, dünn wie von einem Kind, und wischte die Erde weg, die noch daran klebte. Darunter lagen weitere Gebeine von derselben
blassen Farbe, dicht beieinander. Er wollte sie nicht zerbrechen, und so warf er den Spaten aus der Grube.
»Sie ist hier! Wir haben sie gefunden! Man muß sie ganz behutsam ausgraben - überlaßt das mir!«
Gesichter starrten auf ihn herab, Prior Robert wäre in seinem inbrünstigen Eifer am liebsten selbst hinuntergesprungen, um den Schatz zu heben, doch der Kontrast zwischen der dunklen, klebrigen Erde und seinen weißen Händen hinderte ihn daran. Bruder Columbanus stand am Rand der Grube, und sein verzückter Blick richtete sich nicht in die Tiefe, wo die Gebeine der Jungfrau ruhten, sondern himmelwärts, zu jenen Gefilden, die ihr Geist verlassen hatte, um ihm zu erscheinen. Er strahlte eine besitzergreifende Aura aus, die den Prior und den Unterprior überschattete und in ihrem hellen Glanz die Menschen beleuchtete, die ihn aus der Ferne beobachteten. Columbanus wußte, daß er ebenso unvergeßlich sein würde wie diese Stunde.
Bruder Cadfael kniete nieder. Es mochte ein bedeutsames Omen sein, daß er in diesem Augenblick der einzige war, der kniete. Er vermutete, daß er sich zu Füßen des Skeletts befand. Seit Jahrhunderten lag die Heilige hier, doch das Erdreich war sanft mit ihr umgegangen, die Gebeine waren offenbar ganz geblieben. Er hätte sie nicht in ihrer Ruhe stören wollen, und jetzt, wo er es tun mußte, wollte er sie so wenig wie möglich stören. Mit sanften Fingern legte er sie frei. Sie mußte mittelgroß gewesen sein - und zierlich wie ein siebzehnjähriges Mädchen. Zärtlich wischte er die Erde von den Knochen, entdeckte den Schädel, stützte sich auf eine Hand, entfernte mit einem Finger die Erde aus den Augenhöhlen und bewunderte die schön geformten Wangenknochen, das vollendete Rund der Stirn. Noch im Tode war sie schön.
»Gebt mir ein Leinentuch«, bat er, »und Bänder, damit wir sie vorsichtig aus der Grube befördern können – nicht die einzelnen Gebeine, sondern den ganzen Körper - so wie er hier bestattet wurde.«
Sie reichten ihm ein Tuch, und er breitete es neben dem Skelett aus. Behutsam hob er Winifred aus der lockeren Erde, schob sie langsam auf das Leinentuch und ordnete die verdrehten Glieder. Mit den Leinenbändern, die er um ihr Skelett geschlungen hatte, wurde sie ins Tageslicht hinaufgezogen und sanft in das Gras neben ihrem Grab gebettet.
»Wir müssen die Erdspuren von ihren Knochen waschen«, sagte Prior Robert und schaute ehrfürchtig auf die Beute, um deretwillen er so große Mühen auf sich genommen hatte, »und dann müssen wir sie in ein frisches Tuch hüllen.«
»Die Gebeine sind trocken und zerbrechlich«, warnte Cadfael ihn ungeduldig. »Nachdem sie diesem walisischen Erdreich geraubt wurde, könnte sie unter euren Händen zu walisischer Erde zerbröckeln. Und wenn ihr sie allzulange hier in der Luft und im Sonnenschein laßt, wird sie zu Staub zerfallen. Wenn du klug bist, Vater Prior, wickelst du sie ein, legst sie so schnell wie möglich in den Schrein und schließt den Deckel, damit sie der Luft nicht zu lange ausgesetzt wird.«
Der Prior erkannte, daß dies ein vernünftiger Rat war, und befolgte ihn, obwohl er es nicht schätzte, daß man ihm so brüsk erklärte, was er tun und lassen sollte. Mit jubelnden, aber hastigen Gebeten holten sie den kostbaren Schrein aus der Kapelle, um die Heilige nicht unnötigerweise zu bewegen, hüllten sie in noch mehr Tücher und legten sie dann in den Sarg. Die Brüder, die ihn hergestellt hatten, wußten sehr wohl, daß der Sarg luftdicht verschlossen werden mußte, damit der wertvolle Inhalt erhalten blieb, und sie hatten sich bemüht, einen Deckel anzufertigen, der haargenau auf den Sarg paßte. Das Innere war mit Blei verkleidet. Bevor die heilige Winifred in die Kapelle gebracht wurde, wo ein Dankgottesdienst stattfinden sollte, schlossen sie den Deckel, versperrten die Schlösser, und am Ende der Messe wurden noch die Siegel des Priors angebracht. Nun hatten sie die Heilige gefangengenommen, um sie in ein fremdes Land zu bri ngen, das ihre Schirmherrschaft ersehnte. Die zahlreichen Waliser, die in der Kapelle noch Platz gefunden hatten, um dem Gottesdienst beizuwohnen, oder die sich an der Tür drängten, um wenigstens einen kurzen Blick auf das Reliquiar zu erhäschen, waren unnatürlich, ja
Weitere Kostenlose Bücher