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Im Namen der Heiligen

Im Namen der Heiligen

Titel: Im Namen der Heiligen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ellis Peters
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fast unheimlich still. Ihre Augen verfolgten das Geschehen, ohne ihre Gefühle zu verraten - doch die ungeteilte Aufmerksamkeit, die sie dem Vorgang schenkten, kündete von dem unversöhnlichen Protest, den sie nicht offen auszusprechen wagten.
    »Nun, wo diese heilige Pflicht getan ist«, sagte Vater Huw erleichtert und gleichzeitig traurig, »ist es an der Zeit, jene andere Pflicht zu erfüllen, die uns die Heilige auferlegt hat, und Rhisiart mit allen Ehren und voller Absolution in dem Grab zu bestatten, das sie ihm vermacht hat. Ihr sollt alle erkennen, welch unermeßlicher Segen und welch eine hohe Ehre uns dadurch zuteil wurde.« Diese Worte drückten auch die Hochachtung aus, die er für Rhisiart empfand, und die Zustimmung aller Anwesenden, zumindest aller Waliser, war ihm sicher.
    Die Totenmesse war kurz, und danach trugen sechs von Rhisiarts ältesten, vertrauenswürdigsten Dienern die Bahre aus den jungen Zweigen, die nun schon etwas verwelkt waren, aber immer noch grün, zum offenen Grab. Die gleichen Schlingen, mit denen sie Winifred aus der Grube gezogen hatten, warteten nun, um Rhisiart in dasselbe Bett hinabzusenken.
    Sioned stand neben ihrem Onkel, sah sich im Kreis ihrer Freunde und Nachbarn um und löste die Silberkette mit dem Kreuz von ihrem Hals. Sie hatte sich links von Cadwallon und Peredur postiert, und so war es ganz natürlich, daß sie sich nun zu den beiden wandte. Peredur hatte sich bisher im Hintergrund gehalten und Sioned nicht angesehen. Doch als sie sich jetzt plötzlich zu ihm drehte, konnte er ihrem Blick nicht mehr ausweichen.
    »Ich möchte meinem Vater ein letztes Geschenk geben. Und ich will, daß du es ihm darbringst, Peredur. Er hat dich geliebt wie einen Sohn. Würdest du dieses Kreuz auf seine Brust legen - an die Stelle, wo ihn der Pfeil des Mörders durchbohrt hat? Es soll mit ihm begraben werden als mein Abschiedsgeschenk -, und es möge auch das deine sein.«
    Peredur stand da wie vom Donner gerührt und starrte entsetzt auf das kleine Kreuz, das sie ihm entgegenhielt - vor so vielen Zeugen, die ihn alle kannten und die auch er alle kannte. Sie hatte laut und deutlich gesprochen, alle hatten ihre Worte gehört. Und alle Augen schauten auf ihn, alle sahen - wenn sie es auch nicht begreifen konnten, daß das Blut aus seinen Wangen wich. Er konnte ihr nicht verweigern, worum sie ihn gebeten hatte. Und er konnte ihren Wunsch nicht erfüllen, ohne den Toten zu berühren - die Stelle, wo der Tod ihn getroffen hatte.
    Widerstrebend hob er eine Hand und nahm das Kreuz entgegen. Er hätte es nicht ertragen, mit anzusehen, wie sie ihm das kleine Schmuckstück vergeblich reichte. Er betrachtete es nicht, blickte ihr verzweifelt in die Augen, und der prüfende Ausdruck in ihren Zügen wich allmählich einem ungläubigen Grauen, denn nun glaubte sie alles zu wissen. Dies war schlimmer als ihre schrecklichsten Befürchtungen. Aber ebensowenig, wie er der Falle zu entrinnen vermochte, die sie ihm gestellt hatte, konnte sie ihn befreien. Die Falle war zugeschnappt, und nun mußte er versuchen, sich zu retten. Die Leute wunderten sich bereits, warum er sich nicht rührte, flüsterten miteinander und beobachteten besorgt sein Zögern.
    Mühsam riß sich Peredur zusammen und bot alle seine seelischen Kräfte auf, die ihn jedoch sofort wieder verließen. Er machte ein paar unentschlossene Schritte auf die Bahre und das Grab zu, wich dann aber zurück wie ein scheues Pferd. Nun stand er inmitten der Zeugen, konnte weder vor noch zurück. Cadfael sah Schweißperlen auf der Stirn und der Oberlippe des jungen Mannes glänzen.
    »Komm, mein Sohn«, bat Vater Huw freundlich, denn er wäre der letzte gewesen, der Verdacht geschöpft hätte. »Man darf die Toten nicht warten lassen und nicht allzusehr um sie trauern, denn das wäre eine Sünde. Ich weiß, daß Sioned die Wahrheit sagte. Er hat dich wie ein Vater geliebt, und du leidest mit ihr wie wir alle.«
    Peredur hatte zu zittern begonnen, als Huw Sioneds Namen genannt und das Wort >Vater< ausgesprochen hatte. Er versuchte weiterzugehen, doch er konnte sich nicht bewegen. Seine Füße wollten ihn nicht zu der verhüllten Gestalt tragen, die neben dem offenen Grab lag. Die Strahlen der Sonne, die ihn trafen, die Blicke der Zuschauer schienen ihn niederzudrücken. Plötzlich fiel er auf die Knie, das Kreuz in einer Hand, die andere auf das Gesicht gepreßt. »Er kann es nicht tun!« schrie er mit heiserer Stimme. »Er kann mich nicht

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