Im Namen der Toten - Rankin, I: Im Namen der Toten - The Naming of the Dead
gebracht.«
»Dann also morgen?«
»Klingt gut. Wir telefonieren.« Er brach die Verbindung ab und stützte sich mit beiden Händen aufs Kaminsims.
Er hätte schwören können, dass die Flasche ihn anstarrte.
20
Es gab Busse Richtung Süden, und Siobhans Eltern hatten beschlossen, einen davon zu nehmen.
»Morgen wären wir sowieso gefahren«, hatte ihr Vater erklärt, als er sie umarmte.
»Jetzt seid ihr gar nicht in Gleneagles gewesen«, hatte sie zu ihm gesagt. Er hatte ihr ein Küsschen auf die Wange gedrückt, und für ein paar Sekunden war sie wieder ein Kind gewesen. Immer dieselbe Stelle, ob an Weihnachten oder einem Geburtstag, bei guten Noten in der Schule oder einfach nur, weil er glücklich war.
Noch eine Umarmung von ihrer Mutter und die geflüsterten Worte: »Es macht nichts.« Womit sie die Verletzung in ihrem Gesicht meinte – und die Suche nach dem Schuldigen. Sie hatte sich aus Siobhans Umarmung befreit, sie aber auf Armeslänge festgehalten: »Komm uns bald besuchen.«
»Versprochen«, hatte Siobhan geantwortet.
Die Wohnung erschien ihr leer ohne sie. Ihr fiel auf, dass es hier die meiste Zeit still war. Na ja, nicht still – sie hatte immer Musik, das Radio oder den Fernseher an. Aber sie hatte wenig Besuch, niemand, der im Flur pfiff oder beim Abwaschen vor sich hin summte. Da war niemand außer ihr.
Sie hatte versucht, Rebus anzurufen, aber er war nicht rangegangen. Der Fernseher lief; sie schaffte es nicht, ihn abzuschalten. Dreißig Tote … vierzig Tote … vielleicht fünfzig. Der Bürgermeister von London hatte eine gute Rede gehalten. Al-Kaida hatte die Verantwortung übernommen. Die Königin war »zutiefst schockiert«. Die Londoner Pendler begaben sich auf ihren langen Heimweg von der Arbeit. Fernsehkommentatoren fragten, warum die Terrorwarnstufe von »allgemein ernst« auf »substantiell« herabgesetzt worden sei. Ihr lag die Gegenfrage auf der Zunge: Hätte das wirklich einen Unterschied gemacht?
Sie ging an den Kühlschrank. Ihre Mutter hatte eifrig im Viertel eingekauft: Entenfilet, Lammkoteletts, ein dickes Stück Käse, Biofruchtsaft. Siobhan öffnete das Kühlfach, zog einen Becher Vanilleeis heraus, nahm einen Löffel und ging zurück ins Wohnzimmer. Da sie nichts anderes zu tun hatte, fuhr sie ihren Computer hoch. Dreiundfünfzig E-Mails. Ein rascher Blick sagte ihr, dass sie den größten Teil davon löschen konnte. Dann fiel ihr etwas ein. Sie griff in ihre Tasche, holte die CD-ROM heraus und steckte sie ins Laufwerk. StaceyWebster hatte ein paar Fotos von der jungen Mutter mit dem rosa gekleideten Baby gemacht. Siobhan musste lächeln. Die Frau benutzte ihr Kind offensichtlich als Requisit und inszenierte sich an verschiedenen Orten, immer unmittelbar vor der Phalanx von Polizisten, als Windeln wechselnde Mutter. Ein tolles Fotomotiv und ein potenzieller Unruheherd. Es gab sogar ein Foto von den verschiedenen Pressefotografen, Mungo eingeschlossen. Aber Stacey hatte sich auf die Demonstranten konzentriert und ein nettes kleines Dossier für ihre Dienstherrn beim SO12 angelegt. Manche der Polizisten waren jetzt wohl auf dem Weg Richtung Süden. Ihr war nicht klar, was sie tun würde, falls derjenige, der ihre Mutter angegriffen hatte, sich als Polizist aus London entpuppte …
Die Worte ihrer Mutter: Es macht nichts …
Diese Vorstellung drängte sie schnell beiseite. Erst nach fünfzig oder sechzig Bildern entdeckte Siobhan ihre Eltern – Teddy Clarke, der versuchte, seine Frau von der vordersten Reihe wegzuziehen. Um sie herum ein regelrechtes Handgemenge. Erhobene Schlagstöcke, brüllende oder offenstehende Münder. Durch die Luft geschleuderte Mülltonnen. Dreck und entwurzelte Blumen, die umherflogen.
Und dann ein Stock, der Verbindung zum Gesicht ihrer Mutter hatte. Siobhan wollte sich schon abwenden, zwang sich aber hinzuschauen. Der Stock sah aus wie vom Boden aufgehoben. Kein Schlagstock. Geschwungen auf der Seite der Demonstranten. Die Person, die ihn hielt, zog sich rasch zurück. Und plötzlich fiel es Siobhan wie Schuppen von den Augen. Es war genauso, wie Mungo, der Fotograf, es ihr erklärt hatte: Man attackierte die Polizisten und sorgte dafür, dass sich, wenn sie zum Gegenangriff ausholten, unschuldige Zivilisten in der Schusslinie befanden. Bestmögliche PR, die die Polizisten als Schlägertypen dastehen ließ. Ihr Gesicht war durch die Bewegung verschwommen, aber der Schmerz deutlich sichtbar. Siobhan rieb mit dem Daumen über den
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