Im Namen der Toten - Rankin, I: Im Namen der Toten - The Naming of the Dead
dem Staatsanwalt das Beweismaterial zu übergeben und Keith Carberry mit dieser schwerer wiegenden Anklage erneut vor Gericht zu bringen. Dabei würde Tench ungeschoren davonkommen – na und? Selbst wenn man davon ausging, dass der Stadtrat diese Randale in der Zeltstadt von Niddrie inszeniert hatte, war er ihr in den Gärten hinter den Wohnungen wirklich zu Hilfe gekommen – Carberry hatte es ernst gemeint -, sein Adrenalin war in die Höhe geschossen …
Die Bedrohung war real gewesen.
Er hatte ihre Angst spüren, ihre Panik sehen wollen.
Nicht immer kontrollierbar. Tench hatte es gerade so geschafft, die Situation zu retten.
Genau das war sie ihm schuldig …
Auf der anderen Seite klang Carberry, was ihre Mutter betraf, nicht nach einem fairen Deal. Sah nicht nach Gerechtigkeit aus. Sie wollte mehr. Jenseits einer Entschuldigung oder Beteuerung der Reue, jenseits einer Gefängnisstrafe von Wochen oder Monaten.
Als ihr Handy klingelte, musste sie sich überwinden, ihre Finger vom Lenkrad zu lösen. Das Display zeigte an, dass es Eric Bain war. Sie fluchte leise, bevor sie dranging.
»Was kann ich für dich tun, Eric?«, fragte sie, fast ein bisschen zu fröhlich.
»Wie geht’s denn so, Siobhan?«
»Flau«, gab sie mit einem kurzen Auflachen zu und drückte sich den Nasenrücken zusammen. Bloß nicht hysterisch werden, Mädchen, warnte sie sich selbst.
»Ich hätte da vielleicht jemanden, mit dem du reden könntest.«
»Ach ja?«
»Sie arbeitet an der Uni. Ich habe ihr vor Monaten mal bei einer Computersimulation geholfen …«
»Schön für dich.«
Einen Moment herrschte Schweigen in der Leitung. »Ist mit dir wirklich alles in Ordnung?«
»Mir geht’s gut, Eric. Und bei dir? Wie geht’s Molly?«
»Molly geht’s prima … Ich, äh, hab dir doch gerade von dieser Dozentin erzählt?«
»Ja, stimmt. Du meinst, ich sollte zu ihr gehen.«
»Vielleicht kannst du sie auch erst anrufen. Ich meine, es könnte sich natürlich auch als Sackgasse erweisen.«
»Das tut es meistens, Eric.«
»Na vielen Dank.«
Siobhan schloss die Augen und seufzte laut in den Hörer. »Entschuldige, Eric, entschuldige. Ich sollte es nicht an dir auslassen.«
»Was nicht an mir auslassen?«
»Eine Woche voller Scheiße.«
Er lachte. »Entschuldigung angenommen. Ich rufe später noch mal an, wenn du die Möglichkeit gehabt hast, zu -«
»Bleib noch eine Sekunde dran, ja?« Sie langte hinüber zum Beifahrersitz und zog ihr Notizbuch aus der Tasche. »Gib mir ihre Nummer, dann spreche ich mit ihr.«
Er nannte ihr die Nummer, und sie schrieb sie auf, dazu den Namen, so gut sie konnte, denn er wusste nicht genau, wie er buchstabiert wurde.
»Was meinst du denn, was sie für mich haben könnte?«, fragte Siobhan.
»Ein paar verrückte Theorien.«
»Klingt toll.«
»Kann nicht schaden, ihr mal zuzuhören«, riet ihr Bain.
Da war Siobhan allerdings anderer Meinung. Sie wusste jetzt, dass Zuhören sehr wohl Auswirkungen haben konnte – schlimme noch dazu.
Rebus war schon eine Weile nicht mehr im Rathaus gewesen. Das Gebäude stand in der High Street, gegenüber der St. Giles Cathedral. Autos waren eigentlich von der Straße dort verbannt, aber wie die meisten Einheimischen ignorierte Rebus die Schilder und parkte am Bordstein. Er glaubte sich zu erinnern, dass der Sitz des Stadtrats ursprünglich als eine Art Handelsbörse gebaut worden war, die die örtlichen Kaufleute jedoch nicht angenommen hatten. Statt sich ihre Niederlage einzugestehen, waren die Politiker selbst in das Gebäude eingezogen. Bald würden sie allerdings erneut umziehen – ein Parkplatz neben der Waverley Station war zur Erschließung vorgesehen. Bis jetzt konnte noch niemand sagen, wie weit die Baukosten die Haushaltsmittel übersteigen würden. Sollte es so ausgehen wie beim Schottischen Parlament, hätten die Stammgäste der Edinburgher Bars bald wieder ein neues Thema, über das sie sich ereifern könnten.
Das Rathaus war auf einer Peststraße namens Mary King’s Close erbaut worden. Vor Jahren hatte Rebus in dem feuchten unterirdischen Labyrinth in einem Mordfall ermittelt – das Opfer war Caffertys Sohn gewesen. Inzwischen war die Gasse saniert worden und stellte im Sommer eine echte Touristenattraktion dar. Eine der städtischen Angestellten war auf dem Bürgersteig eifrig damit beschäftigt, Handzettel zu verteilen. Sie trug eine Dienstmädchenhaube und mehrere Petticoats übereinander und versuchte, Rebus einen Eintrittsgutschein
Weitere Kostenlose Bücher