Im Namen der Toten - Rankin, I: Im Namen der Toten - The Naming of the Dead
falls die Dinge eskalierten. Über ihnen schwebte ein Helikopter, und ein uniformierter Beamter filmte die Vorgänge von den Stufen eines der Universitätsgebäude aus. Mit der Videokamera suchte er die Straße ab, verweilte einen Moment bei Siobhan und schwenkte dann weiter auf die anderen Umstehenden. In dem Moment bemerkte sie eine zweite Kamera, die auf ihn gerichtet war. Santal befand sich innerhalb des Kordons und nahm mit ihrer Digitalkamera alles auf. Gekleidet wie die anderen, einen Rucksack über der Schulter, konzentrierte sie sich ganz auf diese Aufgabe, statt in die Sprechchöre und Parolen einzustimmen. Die Demonstranten wollten ihre eigene Aufzeichnung haben, um sie später anzuschauen und ihren Spaß dabei zu haben, um die Polizeitaktiken studieren und eine Gegenstrategie entwerfen zu können und letztlich auch für den Fall von – oder vielleicht sogar in der Hoffnung auf – Willkürmaßnahmen der Polizei. Sie waren geschickt im Umgang mit den Medien und hatten Juristen in ihren Reihen. Den Film aus Genua hatte man in der ganzen Welt gezeigt. Warum also sollte ein neuer Film über polizeiliche Gewaltanwendung nicht die gleiche Wirkung haben?
Siobhan wurde klar, dass Santal sie gesehen hatte. Die Kamera war auf sie gerichtet, und das Gesicht hinter dem Sucher verzog sich zu einer finsteren Miene. Siobhan hielt das nicht für den geeigneten Zeitpunkt, um zu ihr zu gehen und nach dem Verbleib ihrer Eltern zu fragen … Ihr Handy fing an zu vibrieren. Sie kramte es hervor und warf einen Blick auf die Nummer, erkannte sie aber nicht.
»Siobhan Clarke«, sagte sie und hielt sich das Gerät ans Ohr.
»Siv? Ray Duff. Ich glaube, den Tag im Grünen hab ich mir redlich verdient.«
»Welchen Tag im Grünen?«
»Den Sie mir schulden …« Er hielt inne. »So lautete doch der Deal zwischen Rebus und Ihnen, oder?«
Siobhan lächelte. »Kommt drauf an. Sind Sie im Labor?«
»Reiß mir für Sie den Arsch auf.«
»Das Zeug vom Clootie Well?«
»Hab vielleicht was für Sie, obwohl ich nicht weiß, ob es Ihnen gefallen wird. Wie schnell können Sie hier sein?«
»Halbe Stunde.« Sie drehte sich vom plötzlichen Schmettern einer Tröte weg.
»Ich weiß sogar, wo Sie sind«, sagte Duff. »Ich hab’s gerade hier in den Nachrichten.«
»Die Demo oder die Autonomen?«
»Die Autonomen natürlich. Fröhliche, gesetzestreue Demonstranten sind kaum eine Geschichte wert, selbst wenn es eine Viertelmillion wären.«
»Eine Viertelmillion?«
»Das sagen sie jedenfalls. Bis in einer halben Stunde.«
»Bye, Ray.« Sie beendete das Gespräch. Eine solche Zahl … mehr als die halbe Bevölkerung von Edinburgh. Das war wie drei Millionen in den Straßen von London. Und sechzig schwarz vermummte Gestalten beherrschten für die nächste Stunde oder länger die Nachrichten.
Danach würden sich nämlich alle Blicke dem Live-8-Konzert in London zuwenden.
Nein, nein, nein, dachte sie, zu zynisch, Siobhan; du denkst schon wie der verdammte John Rebus. Niemand konnte eine Menschenkette ignorieren, die eine Stadt umschloss, ein weißes Band, all die Leidenschaft und Hoffnung …
Minus eine.
Hatte sie wirklich vorgehabt dazubleiben, der Statistik ihr kleines Ich hinzuzufügen? Damit war es jetzt vorbei. Sie konnte sich später bei ihren Eltern entschuldigen. Jetzt machte sie sich erst einmal auf den Weg, weg von den Meadows. Ihr sicherster Tipp: St Leonard’s, das nächstgelegene Polizeirevier. In einem Streifenwagen mitfahren; oder notfalls einen entführen. Ihr eigenes Auto stand in der von Rebus empfohlenen Werkstatt. Der Mechaniker hatte gesagt, sie solle ihn am Montag anrufen. Sie erinnerte sich, dass die Besitzerin eines Geländewagens ihr Auto für die nächsten Tage aus der Stadt gebracht hatte, damit Randalierer es nicht als Zielscheibe benutzten. Auch so eine Schauergeschichte, hatte sie zu dem Zeitpunkt noch gedacht.
Santal schien nicht zu bemerken, dass sie den Ort verließ.
»… kann noch nicht mal einen Brief einwerfen«, sagte Ray Duff. »Sie haben sämtliche Briefkästen verschlossen, falls jemand auf die Idee kommen sollte, eine Bombe hineinzuwerfen.«
»In der Princes Street sind manche Schaufenster mit Brettern vernagelt«, fügte Siobhan hinzu. »Was, glauben Sie, fürchtet Ann Summers?«
»Baskische Separatisten?«, schlug Rebus vor. »Können wir vielleicht mal zur Sache kommen?«
»Er hat Angst, die große Wiedervereinigung zu verpassen«, prustete Duff.
»Wiedervereinigung?« Siobhan sah
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