Im Namen der Toten - Rankin, I: Im Namen der Toten - The Naming of the Dead
leise. »Das war nicht Bens Art.« Sie kämpfte mit den Tränen, schniefte, seufzte und schnippte den größten Teil der Zigarette auf die Fahrbahn. »Ich muss jetzt gehen.« Sie zog eine Brieftasche aus ihrem Umhängebeutel und reichte Rebus eine Visitenkarte mit nichts darauf als ihrem Namen – Stacey Webster – und einer Handynummer.
»Wie lange sind Sie schon bei der Polizei, Stacey?«
»Acht Jahre. Die letzten drei bei Scotland Yard.« Ihr Blick war auf ihn gerichtet. »Sie werden Fragen an mich haben: Hatte Ben Feinde? Finanzielle Schwierigkeiten? Gescheiterte Beziehungen? Vielleicht später, ja? Morgen oder so, rufen Sie mich an.«
»In Ordnung.«
»Deutet nichts in dem …« Sie hatte Mühe, das nächste Wort herauszubringen, holte tief Luft und versuchte es noch einmal. »Deutet nichts darauf hin, dass er einfach gefallen ist?«
»Er hatte ein oder zwei Glas Wein getrunken – das könnte ihn benommen gemacht haben.«
»Hat niemand etwas gesehen?«
Rebus zuckte mit den Schultern. »Soll ich Sie bestimmt nicht mitnehmen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich muss ein Stück laufen.«
»Ein guter Rat: Halten Sie sich von der Route der Demonstration fern. Vielleicht sehen wir uns ja wieder … und wegen Ben tut es mir wirklich leid.«
Sie starrte ihn an. »Sie klingen, als meinten Sie es auch so.«
Fast hätte er sich ihr anvertraut – ich habe erst gestern meinen Bruder beerdigt -, zuckte aber stattdessen nur mit dem Mund. Vielleicht hätte sie angefangen, Fragen zu stellen: »Haben Sie einander nahe gestanden? Wie geht es Ihnen jetzt?« Fragen, auf die er im Grunde keine Antworten wusste. Er beobachtete, wie sie ihren einsamen Weg die Cowgate hinunter antrat, dann ging er zum Abschlussbefund der Autopsie wieder in die Leichenhalle.
4
Als Siobhan bei den Meadows ankam, erstreckte sich die Schlange der wartenden Demonstranten entlang der ehemaligen Royal Infirmary und über die Spielfelder hinweg bis zu dem Platz, wo die Reihen von Bussen standen. Eine Megafonstimme kündigte an, dass die Leute am Ende der Schlange sich womöglich erst in zwei Stunden in Bewegung setzen könnten.
»Das liegt an den Bullen«, erklärte jemand. »Lassen uns immer nur in Trupps zu vierzig oder fünfzig losgehen.«
Siobhan war kurz davor gewesen, die Taktik zu verteidigen, aber sie wusste, das würde sie verraten. Sie ging an der geduldig wartenden Schlange entlang und fragte sich, wie sie ihre Eltern finden sollte. Es mussten hunderttausend Menschen sein, vielleicht sogar doppelt so viele. Eine solche Menschenmenge hatte sie noch nie gesehen; beim »T in the Park«-Festival waren es nur sechzigtausend. Das heimische Fußballderby zog an einem guten Tag vielleicht achtzehntausend an. Hogmanay in und um die Princes Street konnte an die Hunderttausend herankommen.
Das hier war größer.
Und alle lächelten.
Kaum eine Uniform war zu sehen; auch nur wenige Ordner. Familien strömten aus Morningside, Tollcross und Newington herbei. Siobhan hatte schon ein halbes Dutzend Bekannte und Nachbarn getroffen. Der Oberbürgermeister stand an der Spitze der Prozession. Manche meinten, Gordon Brown sei auch da. Er würde später auf einer Kundgebung sprechen, vom Personenschutz gedeckt, obwohl er von der Operation Sorbus aufgrund seiner positiven Aussagen zu Entwicklungshilfe und fairem Handel als »wenig gefährdet« eingestuft wurde. Man hatte Siobhan eine Liste der Berühmtheiten gezeigt, die in der Stadt erwartet wurden: Geldof und Bono natürlich; vielleicht Ewan McGregor (der auf jeden Fall zu einer Veranstaltung in Dunblane kommen sollte), Julie Christie, Claudia Schiffer, George Clooney, Susan Sarandon …
Nachdem sie sich an der Schlange vorbeigekämpft hatte, steuerte sie auf die Hauptbühne zu. Eine Band spielte, ein paar Leute tanzten ausgelassen. Die meisten saßen im Gras und warteten. In der kleinen Zeltstadt nebenan gab es Beschäftigungsangebote für Kinder, Erste Hilfe, Unterschriftenlisten und Infostände. Kunstgewerbeartikel wurden verkauft und Flugblätter verteilt. Eine der Boulevardzeitungen schien »Make Poverty History«-Plakate ausgegeben zu haben. Demonstranten, die eins genommen hatten, waren jetzt damit beschäftigt, den oberen Teil des Plakats und damit das Impressum der Zeitung abzureißen. Heliumgefüllte Ballons stiegen gen Himmel. Eine improvisierte Blaskapelle zog, gefolgt von einer afrikanischen Steelband, rund um das Feld. Noch mehr Tanzen, noch mehr Lächeln. Da wusste sie, dass es gut
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