Im Namen des Kreuzes
Eva war das kein Problem, sie hatte ihren Stuhl immer dabei, Schwarz musste stehen. Er lehnte sich neben einem Beichtstuhl an die Wand.
Der barocke Kirchenbau war von Licht durchflutet, das den goldenen Tabernakel erglänzen ließ. Auch das große Altargemälde mit dem heiligen Joseph, dem sich ein Engel offenbart, schien von innen heraus zu leuchten. Es wurde von vier gewundenen Säulen aus altrosa Marmor eingerahmt. Links und rechts vor dem Hochaltar stand das mit üppigen Schnitzereien verzierte Chorgestühl. Der übliche Altarblock fehlte, stattdessen war der Chorraum mit einer steinernen Balustrade von der übrigen Kirche abgetrennt.
Aber Schwarz nahm sich nicht die Zeit, St. Joseph als kunstgeschichtliches Juwel zu würdigen. Er schaute nicht zum phantastischen Deckengemälde mit Szenen aus dem Leben des Kirchenpatrons. Er übersah den fein gearbeiteten Stuck, die alabasterfarbenen Heiligenfiguren und den wertvollen gotischen Taufstein.
Anton Schwarz interessierten nur die Menschen, die zum Festgottesdienst gekommen waren.
Auf den ersten Blick waren die Kirchenbänke mit gewöhnlichen Gläubigen besetzt, zu gut einem Drittel mit Dorfbewohnern, sonst mit einem offenbar von weiter her angereisten, eher städtischen Publikum. Bei genauerem Hinsehen erkannte Schwarz, dass sich hier vor allem sehr konservative Menschen versammelt hatten. Viele Männer trugen dunkle Anzüge und Krawatten, die Frauen Kostüme in gedeckten Farben. Die Frisuren waren akkurat, die Mienen streng.
Bei einigen männlichen Kirchenbesuchern sah Schwarz am Revers eine Anstecknadel in Form eines ›M‹, vermutlich das Zeichen des Militia -Ordens.
Vier Ministranten in weißen Chorhemden und roten Röcken gingen die Kirchenbänke entlang und verteilten Liedtexte. Schwarz sah, wie sie da und dort Gleichaltrigen zunickten und begriff, dass über die ganze Kirche kleine Gruppen von Jungen verteilt waren, die sich in der Obhut des Ordens befanden. Sie waren zwischen vierzehn und achtzehn Jahren alt, die Jüngeren trugen über ihren weißen Hemden graue, die älteren blaue Pullunder mit einem eingestickten ›M‹. Auffällig war, dass die kräftigsten Jungen wie Türsteher das Kirchentor flankierten.
Dann erfüllte der mächtige Klang der Orgel das Kirchenschiff. Ein Messner im schwarzen Talar läutete ein Glöckchen. Die Gläubigen erhoben sich.
Ein Dutzend Ministranten zogen von hinten in die Kirche ein. Der vorderste schwenkte ein silbernes Weihrauchfass und hüllte die Gemeinde in dichte Schwaden ein. Neben ihm trug ein dicker Junge das silberne Schiffchen mit dem Weihrauch. Zwei hielten Kerzenleuchter, einer ein goldenes Kreuz. Es folgten Diakone, Fratres, Mönche.
Zuletzt schritten fünf Geistliche in goldbestickten Messgewändern feierlich durch den Mittelgang zum Altar. Bei dreien fiel Schwarz das südländische Aussehen auf. Er vermutete, dass es sich um Bischöfe oder sogar Kardinäle handelte.
Im Chorraum machte jeder aus der Prozession eine Kniebeuge, um dann seinen Platz einzunehmen: Die Mönche und Fratres verteilten sich über das Chorgestühl, die Ministranten stellten sich links und rechts des Altars auf. Die hohen Geistlichen knieten schließlich, nachdem ihnen Krummstab und Mitra abgenommen worden waren, direkt vor dem Altar.
Schwarz war der alte katholische Messritus nicht fremd. Als kleiner Junge war er von seiner Mutter manchmal in die Waldramer Kirche St. Josef der Arbeiter geschickt worden – sie selbst hatte den Gottesdienst nur selten besucht. Außerdem waren einige seiner Klassenkameraden an der Volksschule Ministranten geworden. Er hatte ihnen beim Pauken der lateinischen Texte geholfen. Er erinnerte sich noch an Passagen aus dem Stufengebet. Immer hatte er den Part des Priesters übernommen: ›In nomine Patris et Filii et Spiritus Sancti. Amen. Introibo ad altare dei‹.
Und die Freunde hatten mit ›Ad deum, qui laetivicat juventutem meam‹ geantwortet.
Was das bedeutete, wusste keiner. Und bald war die lateinische Messe ja auch verschwunden. In den Kirchen wurden sogenannte Volksaltäre errichtet, der Priester feierte die Messe auf Deutsch und mit dem Gesicht zur Gemeinde.
Schwarz wunderte sich, dass in der barocken Klosterkirche so viele Menschen einem Gottesdienst beiwohnten, bei dem sie kaum etwas verstanden und die Priester nur von hinten und im Weihrauchnebel sahen. Die Sehnsucht nach der guten alten Zeit war offenbar groß, und noch größer die nach dem Mysterium.
Schon komisch, dachte
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