Im Namen Des Schweins
ausgesprochen amüsant. T kommt aus dem Schmunzeln gar nicht mehr heraus. Er antwortet gut gelaunt, manchmal sogar auch scherzhaft. Trotzdem würde er am liebsten für ein paar Sekunden ganz unverstellt ihren natürlichen Gesichtsausdruck sehen. Die einzige Gelegenheit dazu bietet sich in den Momenten, in denen das Mädchen sich konzentriert. Wenn sie auf Englisch liest und dann die passenden Worte sucht, um die Frage für T ins Spanische zu übersetzen. Dann sieht ihr Gesicht entspannt und ernst aus wie ein Foto in einer Polizeiakte. In diesen kurzen Augenblicken fällt T ihre Schönheit auf. Vor allem aber diese Ähnlichkeit.
Diese verblüffende Ähnlichkeit.
T sitzt etwa zwanzig Minuten bei ihr und beantwortet den Fragebogen. Zunächst ist T ein wenig betrübt, dass sie ihn siezt, während er sie von Anfang an geduzt hat. Damit stellt sie zweifellos eine gewisse Distanz her. Glücklicherweise findet er schnell einen Vorwand, um am nächsten Tag noch einmal wiederzukommen und alles anders anzufangen. T hat natürlich seinen Reisepass dabei. Ihm war klar, dass er ihn würde vorlegen müssen. Aber er tut so, als hätte er ihn im Hotel vergessen und verspricht, ihn am nächsten Tag vorbeizubringen: »Bist Du morgen Vormittag da?«
Sie schaut links und rechts, als hielte sie Ausschau nach versteckten Spionen: »Glaub schon. Falls Sie mich dann nicht schon herausgeschmissen haben wegen meiner Quatschmacherei.«
***
Er macht sich auf der 42. nachdenklich auf den Rückweg, nachdem er aus dem Gebäude herausgetreten ist. Er läuft viel zu langsam für das Tempo der Straße. Die Sache mit dem »Sie« bereitet ihm Sorgen. Wie alt sie wohl ist? T würde schätzen, dass sie mindestens fünfundzwanzig ist. Nach der Art und Weise zu urteilen, in der sie redet und mit den Leuten umgeht. Aber sie könnte auch gut erst zwanzig sein. Die Haut sieht so jung aus und auch das Weiß in ihren Augen: ein fast bläuliches Weiß. Diese Farbe haben nur ganz frische Augen. Andererseits muss sie ja auf alle Fälle einen Hochschulabschluss besitzen, um diese Stelle bekommen zu haben. Das würde bedeuten, dass sie mindestens dreiundzwanzig ist. Dann wäre sie etwa zwei Jahre jünger als auf dem Portrait, was wiederum passt … Oder passen würde … Das Problem ist der Altersunterschied, der zwischen ihnen besteht. Es sieht aus, als könnte er ihr Vater sein oder so … Wenn er sehr jung eine Tochter bekommen hätte. Sicher dagegen erscheint ihm, dass er nicht aussieht wie der Vater einer Zwanzigjährigen. Er hat keinerlei Erfahrungen in dieser Beziehung. Daher dürfte es auch weder sein Aussehen noch seine Persönlichkeit geprägt haben. Möglich wäre natürlich, dass ihn der Bart ein bisschen älter macht. Seit er sein Sabbatical beantragt hat, trägt er gewöhnlich einen Drei-Tage-Bart. Aber hier in der Stadt hat er sich noch gar nicht rasiert. Vielleicht sind die Haare mittlerweile zu sehr gewachsen und auch zu grau am Kinn. Besser ist wahrscheinlich, sie abzurasieren. Er soll so unscheinbar wie möglich bleiben dieser weiße Fleck eines … Druiden?
Während er dahinspaziert und sich über solcherlei Hindernisse ebenso hinwegsetzt wie über das Gedränge der Passanten, bekommt er Lust, einen simplen Kaffee zu trinken, um in aller Ruhe über all diese Dinge nachzudenken. Bei der Vorstellung allerdings, sich in einem Deli den Kopf darüber zu zerbrechen, welche Art von Heißgetränk man sich bestellen könnte und welche Schritte er dafür unternehmen müsste, verflüchtigt sich der Wunsch. Also entscheidet er sich gegen den Kaffee und dafür, weiter Richtung Westen zu laufen. Im Hinterkopf schwebt die Idee, sich die Public Library anzuschauen, um zu versuchen, ins Internet zu kommen.
Vor dem Eingang zur Bibliothek, an der Kreuzung der Fifth Avenue, zwitschern trotz des Rauschens des Verkehrs die Vögel im Park; er entdeckt auf dem Zweig eines Strauchs einen besonders prächtigen, der seine bunte Brust aufplustert. All das nur wenige Meter entfernt von dem wellenförmigen Asphalt, auf dem Taxis und Limousinen umherschiffen wie schwerfällige Galeonen. Aber der Verkehr scheint ihn nicht zu stören. Ebenso wenig, dass der Himmel zwischen Türmen eingesperrt ist, die siebzig Stockwerke hoch sind: Der kleine Galan mit seiner flammenden Brust zeigt sich unbeirrt von seiner besten Seite. Um ein Weibchen zu verführen. Hier genauso wie in den entlegensten Wäldern unseres Planeten.
T bleibt einen Augenblick am Eingang des Gebäudes stehen.
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