Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Im Namen Ihrer Majestät

Im Namen Ihrer Majestät

Titel: Im Namen Ihrer Majestät Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Guillou
Vom Netzwerk:
stand auf und umarmte seinen Freund erneut. »Wie habe ich mich gehalten, Genosse General?«
    »Hervorragend!« rief Jurij Tschiwartschew aus. »Vor allem hat mir gefallen, daß du nicht vergessen hast, daß es Genosse Oberst heißt! Davon wird der alte Mann noch lange zehren.«
    »Wer Träume hat, lebt lange, aber die Träume leben ewig«, erwiderte Carl.
    »Wie das alte russische Sprichwort sagt«, bemerkte Jurij Tschiwartschew nachdenklich. »Himmel, Carl, wo hast du das denn aufgeschnappt!«
    »Tolstoj«, erwiderte Carl.
    »Hätte ich mir denken können. Nun, dann laß uns wie zwei moderne Menschen ausgehen und uns die Stadt ansehen«, sagte Jurij Tschiwartschew.
    Sie schlenderten die Allee in der Mitte des Leninskij Prospekt im Schatten hoher Laubbäume entlang, deren russische Namen Carl zu seinem Ärger vergessen hatte. Es war immer noch Vormittag, doch es begann warm zu werden. Sie setzten sich eine Zeitlang in ein offenbar beliebtes Café, das von jungen Männern in schwarzen Lederjacken und jungen Frauen in westlich aussehenden Kleidern bevölkert war. Sie bestellten Bier aus der örtlichen Brauerei. Zu Carls Erstaunen war das Bier gut, weit besser als das eigenartige Gebräu, das in Moskau unter der Bezeichnung russisches Bier angeboten wurde.
    Carl betrachtete die jungen Leute. Wäre er in Moskau gewesen, hätte er ohne weiteres gemeint, es wären Kriminelle. Aber mitten in Sibirien? Hatten sich die westlichen Ideale schon bis hierher ausgebreitet?
    Jurij Tschiwartschew war unsicher, wie es sich verhielt, wies aber daraufhin, daß die jungen Frauen möglicherweise wie Prostituierte aussähen, ohne es zu wissen. Sie ahmten schließlich nur übertriebene Modebilder aus westlichen Zeitschriften nach, die ihnen mehr oder weniger zufällig in die Hände gerieten. Sie hätten keine Ahnung davon, wie die Menschen eigentlich in jener Welt aussähen, die in diesen Reklamebildern wiedergegeben werde. Vermutlich seien sie Studenten an der Hochschule oder dem polytechnischen Institut, das ein Stück weiter an dieser Straße liege. Carl nickte.
    Die beiden Männer setzten den Spaziergang zum Fluß hinunter fort, während Jurij Tschiwartschew die Geschichte seiner Familie erzählte.
    Seine Mutter und sein Vater seien schon lange vor der großen Umsiedlung bei Kriegsausbruch nach Barnaul gekommen. Er holte tief Luft und fuhr fort: »Vater war Ingenieur und Reservist bei den Ingenieurtruppen, wie die meisten mit seiner Ausbildung. Der Große Vaterländische Krieg hat Barnaul zwar nie erreicht, aber Vater wurde schließlich doch vom Krieg mitgerissen, am Ende bis nach Berlin. Während ich und meine Brüder hier eine vergleichsweise idyllische Kindheit mit heißen Sommern und kalten Wintern verbrachten, war er meist nicht da. Wenn man älter wird, neigt man dazu, diese Dinge in der Erinnerung schöner zu sehen, als sie waren. Meine Brüder leben noch immer in Barnaul. Der eine ist Industriearbeiter, der andere Zahnarzt. Mutter ist hier gestorben und hier begraben. Auch mein Vater wird eines Tages hier in Barnaul begraben werden, wahrscheinlich auch ich selbst eines Tages.
    Damals waren alle Häuser aus Holz, und die Stadt wäre kaum mehr als ein Dorf gewesen, wäre da nicht die Silberindustrie gewesen, das älteste der metallurgischen Projekte. Es gab vielleicht zehntausend oder zwanzigtausend Einwohner, bevor die großen Völkerwanderungen des Krieges angerollt kamen. Gegen Ende des Krieges wurde das Leben schwieriger, obwohl Kindern so etwas vielleicht nicht so viel ausmacht. Ich denke an das rationierte Essen, Lebensmittelmarken und so weiter. Doch als Vater 1945 als Held der Sowjetunion und Oberst zurückkam, hatten alle Versorgungsprobleme ein Ende. Die Familie bekam bald die große Wohnung an der Hauptstraße. Dort wohnen wir immer noch. Nun ja, mein Bruder, der Zahnarzt, und seine Familie natürlich nicht.«
    Inzwischen waren sie bei dem großen Markt angekommen, an dem der Leninskij Prospekt aufhörte. Carl zog den etwas unwilligen Jurij Tschiwartschew mit, denn er wollte sehen, was es in Barnaul zu kaufen gab und was es kostete. Die ehemalige Kooperative war inzwischen privatisiert worden. Folglich waren die Preise manchmal übermäßig hoch, ein paar Stände weiter kostete etwas aber nur noch die Hälfte. Es mangelte an nichts. Carl stellte schnell fest, daß die Preise wesentlich niedriger waren als in Moskau. Es gab auffallend viel Fisch, Karpfen und Stör, die frisch, gepökelt und geräuchert verkauft wurden.

Weitere Kostenlose Bücher