Im Nebel eines neuen Morgens - Kriminalroman
Bürgersteig stecken und stolperte. »Verdammt«, murmelte sie, bückte sich und inspizierte ihren Schuh. Als sie wieder aufblickte, flatterte ein Monarchfalter so nah an ihr vorbei, dass sie ihn mit der Hand hätte berühren können. Mit pochendem Herzen wich sie von dem Schmetterling zurück. Es war November. Schmetterlinge ließen sich üblicherweise zu dieser Zeit in der Gegend nicht mehr blicken.
Etwas Schlimmes musste geschehen sein.
Eine andere Erklärung gab es nicht für Pinkneys Hast und Chulas merkwürdige Abwesenheit. Florence hatte überall im und hinter dem Postamt nachgesehen, aber Chula und das Kind waren wie vom Erdboden verschluckt.
Sie ging wieder ins Postamt und nahm mit zitternder Hand den Hörer ab. Im Sheriffbüro meldete sich niemand. Ihre Stimme bebte, als sie sich mit dem Haus von Chula Baker verbinden ließ. Sie zählte, wie oft es klingelte, und versuchte ihre Angst hinunterzuschlucken, die ihr die Kehle zuschnürte.
»Hallo«, kam die klare, aber bange Stimme von Thomasina Baker.
»Hier ist Florence Delacroix aus dem Postamt. Ist Chula da?« Florence zwang sich zur Ruhe.
»Verdammt noch mal, ich wollte gerade bei Ihnen anrufen. Wir haben hier einen Notfall, Florence. Sarah Bastion ist … krank. Chula hat sie nach Hause bringen müssen, und jetzt warten wir auf den Doktor. Können Sie noch ein wenig länger im Postamt bleiben? Chula hat mich gebeten, Sie anzurufen und Ihnen auszurichten, dass Claudia jeden Moment kommen sollte. Aber ich hab hier alle Hände voll zu tun.«
»Ist mit Sarah alles in Ordnung?« Ihre Anspannung ließ etwas nach. »Sie hat vorhin geredet.«
»Wir wissen nicht, ob mit ihr alles in Ordnung ist. Sie hat Adele gesehen, und jetzt will sie gar nicht mehr aufhören zu weinen.«
»Adele? Hier? Im Postamt?« Florence sah zur Hintertür. Sie stand halb offen, so, wie sie sie gelassen hatte, als sie hinten nachgesehen hatte. Falls Adele in ihrem Wahnsinn durch die Straßen streifte und auf die Idee kam …
»Joe Como ist zu Vater Finley gefahren. Nach allem, was zuletzt zu hören war, soll Adele bei ihm sein.«
»Im Haus des Priesters?«
»Das hat Pinkney gesagt.«
»Und Raymond?« Falls der Sheriff Adele in seiner Gewalt hatte, musste Raymond dorthin.
»Ist mit Professor LeDeux unterwegs. Sie haben nicht gesagt, wohin sie wollen.«
Als Florence hörte, wie die Hintertür aufging, hätte sie beinahe den Telefonhörer fallen lassen. Doch es kam nur Claudia herein, einen leeren Postsack über der Schulter. Überrascht sah sie Florence an.
»Danke, Mrs. Baker. Ich muss jetzt Schluss machen.« Sie legte auf. »Chula ist zu Hause. Sarah ist krank.« Sie machte sich nicht die Mühe, noch mehr zu erklären, sondern stürzte bereits zum Vordereingang. Zehn Meter vom Postamt entfernt blieb sie stehen und zog sich die Schuhe aus, und barfuß rannte sie nach Hause zu ihrem Wagen.
Der bevorstehende Winter zeigte sich in den vom Wind zusammengetragenen Laubhaufen entlang der schmalen Straße. Die Platanen, an die sich noch einige wenige gelbe Blätter klammerten, leuchteten geisterhaft weiß in der Morgensonne. Raymond fuhr mit hundert Stundenkilometern in einen der Haufen, die Blätter wirbelten über die Windschutzscheibe und versperrten ihm kurzzeitig die Sicht. Unbeirrt blieb er auf dem Gaspedal.
Nach einer scharfen Kurve steuerte er mit halsbrecherischem Tempo in die Stadt. Er wurde nicht langsamer. Die Straßen waren wie ausgestorben. Kein Verkehr, niemand, der zu sehen war. Er überquerte den Teche und hielt sich Richtung Norden. Er hatte das Gefühl, dass er zu spät kam, dass ihm die Zeit schneller unter den Reifen des Wagens wegglitt, als er fahren konnte. Seine Finger taten ihm weh vom verkrampften Griff um das Lenkrad, und in seinem Rücken und in seiner Hüfte loderte der Schmerz. Doc Fletcher hatte ihm geraten, im Bett zu bleiben, Bewegung könnte dazu führen, dass die Schrapnellsplitter näher ans Rückgrat wanderten. Darauf konnte er jetzt keine Rücksicht nehmen.
Raymond hielt vor Bernadette Matthews Haus an. Beide Männer stiegen aus. Raymond zögerte. »Vielleicht sollten Sie hier bleiben.«
»Erwarten Sie Schwierigkeiten?«, fragte John.
»Möglich.« Er wusste nicht, was ihn erwartete. Das Haus wirkte leer, von den Kindern war nichts zu sehen.
»Dann komme ich lieber mit.« Aus seinem Tonfall sprach reine Vernunft. »Wäre hilfreich, wenn ich wüsste, womit hier zu rechnen ist.«
»Adeles Schwester Bernadette wohnt hier.« Raymond war
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