Im Nebel eines neuen Morgens - Kriminalroman
hatte alles verloren – er verstand, was das bedeutete –, aber sie würde nicht ihr Leben verlieren. Nicht, solange er etwas dagegen tun konnte.
Noch war sie am Leben. Ihre Augenlider flatterten, ihre Hände zuckten kaum merklich, versuchten etwas zu ergreifen und fielen ihr wieder in den Schoß. Er hatte oft mit ansehen müssen, wie hilflose Menschen gestorben waren, diesmal aber würde der Tod nicht die Oberhand gewinnen.
»Adele?« Er wollte sie in diese Welt zurückrufen. Er dachte an die junge Krankenschwester in Europa, die ihn gepflegt hatte, nachdem neben ihm die Granate eingeschlagen war. Wie oft hatte sie an seinem Bett gesessen und ihn aufgefordert, in das Land der Lebenden zurückzukehren. Jetzt tat er dasselbe für Adele. »Bleiben Sie bei mir, Adele. Ich weiß, Sie haben Bastion nicht umgebracht.«
Als sie gegen die Beifahrertür sackte, verstummte er. Sie atmete, und im Augenblick wirkte sie friedlich.
Als er in Madame Louiselles Hof einfuhr, war die Alte beim Kräutersammeln an einem klapprigen Holzzaun, der kaum das Unkraut von ihrem Garten abhalten konnte. Sie zeigte sich nicht überrascht, auch nicht, als er die blutüberströmte Adele aus dem Wagen hob. Langsam kam sie auf sie zu, dann zog sie Adele ein Augenlid nach oben.
»Bring sie rein. Du wirst sie hier lassen müssen.«
Er widersprach nicht. Der Sheriff würde verärgert sein, aber was nützte ihnen eine tote Gefangene? Vorsichtig, darauf achtend, dass er mit ihren langen Gliedmaßen nirgends anstieß, trug er Adele die Stufen hinauf. Knochen sollten eigentlich mehr wiegen. Er hatte die bestürzende Vorstellung, dass sie irgendwie ausgehöhlt wäre.
Er legte sie auf dem Sofa ab und trat zurück. Madame Louiselle packte ihn an der Hüfte und schob ihn weg. Sie kniete sich neben Adele und berührte ihr Gesicht, zog ihr die Augenlider nach oben, öffnete ihr den Mund und besah sich die Zähne und das Zahnfleisch.
»Kannst du ihr helfen?«, fragte Raymond.
»Das Fieber verbrennt sie bei lebendigem Leib.« Sie erhob sich mit der Anmut einer Sechzehnjährigen.
»Was stimmt mit ihr nicht? Die eine Minute ist sie nahezu klar bei Verstand, die nächste redet sie nur wirres Zeug.«
Madame Louiselle ging zur Tür, drehte sich um und wartete, dass er nachkam. »Sie wird nicht aufstehen und davonrennen, Raymond. Komm raus und rede mit mir.«
Er folgte ihr nach draußen, kramte seine Camel-Packung hervor und bot Madame eine Zigarette an. Sie nahm sie, klopfte damit geziert gegen das Holzgeländer der Veranda, bevor sie sie sich zwischen die Lippen steckte. Er gab ihr Feuer und zündete sich selbst eine an.
»Glaubst du an Krankheiten der Seele?«, fragte sie.
»Du meinst Geisteskrankheiten?« Eine Reihe von Bildern zog an ihm vorbei, aufblitzende Bajonette, Schreie in der Nacht, die verkrümmten Gliedmaßen verzweifelter Soldaten, die sich in die feuchte Erde ihres Schützenlochs krallten und vor dem feindlichen Feuer Deckung suchten, das sie in den Wahnsinn trieb.
Sie musterte ihn. »Ich rede nicht davon, dass jemand den Verstand verliert. Sondern von was anderem.«
Er schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht an das Böse, an so was wie den Teufel oder an Dämonen oder den loup-garou . Ich glaube an Habgier und Grausamkeit und Bosheit. Und an Schwäche. Das Schlimmste überhaupt.«
»Ich bin jetzt sechzig Jahre alt. Ich hab vieles miterlebt. Ich war kaum drei, da hab ich meine grandmère in die schmalen Bayous der Sümpfe begleitet, um die Kranken zu behandeln. Sie hatten oft Fieber.« Sie drückte ihre Zigarette aus. »Viele starben. Von meiner grandmère lernte ich, dass es drei Arten von Krankheiten gibt. Krankheiten, die den Körper angreifen. Die können oft mit Kräutern und ein bisschen Geschick geheilt werden. Krankheiten, die einem den Verstand verdrehen, können durch eine äußere Veränderung, durch eine Reise, einen Umzug behandelt werden.« Erst jetzt sah sie ihn an. »Krankheiten der Seele allerdings entziehen sich meinem Geschick.«
Raymond ließ sich ihre Worte durch den Kopf gehen. »Du willst mir sagen, dass Adele Hebert an einer kranken Seele leidet?«
Madame nahm sich eine weitere Zigarette, beugte sich vor, um die Streichholzflamme zu schützen, und blies den Rauch aus. »Ich hab sie untersucht, Raymond. Ich weiß nicht, was ihr fehlt. Dafür reicht meine Erfahrung nicht aus.«
»Glaubst du denn, sie ist vom loup-garou besessen?« Er machte aus seinem Unmut keinen Hehl.
Sie ließ den Blick über ihren Hof
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