Im Nebel eines neuen Morgens - Kriminalroman
schweifen. »Sie hat mir nichts erzählt. Nach all den Jahren weiß ich eines: Wenn sie davon überzeugt ist, spielt es keine Rolle, was du glaubst. Sie glaubt es, also ist es so. Wir sind alle auf Gedeih und Verderb unseren Vorstellungen ausgeliefert.«
»Aber du willst doch nicht sagen, dass sie so hohes Fieber hat, nur weil sie glaubt , sie wäre der loup-garou – und deswegen Blutfontänen aus ihrer Nase spritzen und sie mit bloßen Händen einen Mann in Stücke reißt?« Er drehte das Streichholzblättchen in den Fingern hin und her.
»Ich sag gar nichts, was Adele betrifft. Was ich sage, war eine allgemeine Beobachtung der menschlichen Natur. Hier sind Kräfte am Werk, die du nicht siehst und an die du nicht rankommst. Das weißt du. Insgeheim.« Sie ließ sich von seinem Unwillen nicht beirren. »Familien belegen sich noch immer mit Flüchen. Manchmal wird sogar Voodoo benutzt. Die Dunkelheit, die sich über die Sümpfe legt, ist manchmal finsterer als die Nacht. Weil die Frauen … oder die Männer daran glauben.«
»Adele Hebert ist körperlich nicht dazu in der Lage, einen Mann mit Händen und Zähnen auszuweiden. Ich hab sie in der Zelle liegen sehen, ich weiß, weiß aus tiefstem Herzen, dass sie unschuldig ist. Selbst wenn sie es gewollt hätte, hat sie nicht die Kraft dazu. Henri Bastion war Ende dreißig, ein kräftiger Mann. Soweit ich weiß, wurde er nicht bewusstlos geschlagen, er wurde nicht erschossen. Er wurde mitten auf der Straße angefallen und mit bloßen Zähnen zerfleischt.« Henri Bastions Leichnam erzählte eine eindeutige Geschichte. »Die Frau, die da drinnen liegt, hat das nicht getan.«
»Und wenn sie nicht allein war?«
Er nickte. »So kommen wir eher weiter.« Raymond wusste, wie Mörder aussehen. Jeden Morgen, wenn er sich in seinem zerbrochenen Spiegel betrachtete und die Stoppeln von seinen Wangen schabte, sah er in die Augen eines Mörders. Das kurze Aufflackern des Todes, das sich in seinem Blick spiegelte, fehlte Adele.
Madame starrte ihn durchdringend an. Sie klopfte an seine Tasche für eine weitere Zigarette.
Er bot sie ihr an, hielt ihr das Streichholz hin und sah ihr in die Augen. »Was ich aber nicht verstehe, ist das warum . Warum Adele? Die Frage, um die es geht, lautet, wer ihr das antun wollte.«
»Lass sie bei mir.«
»Ich hab keine andere Wahl.« Er schnippte seine Zigarette über die Veranda. »Es gibt sonst niemanden, der ihr helfen würde, und wenn Joe nicht bald den Mund hält, wird sich die gesamte Gemeinde in einen Lynchmob verwandeln.«
Madame zog an der Zigarette und blies den Rauch aus. »Lass mir auch die Zigaretten hier.«
Er zog die Schachtel aus der Tasche und reichte sie ihr. »Ich werde morgen wiederkommen und nach ihr sehen.« Madame hatte kein Telefon. Wenn etwas schieflief, wäre sie mit der jungen Frau allein. Er wartete auf irgendwelche Einwände.
»Hast du schon mit Bernadette geredet?«
Bernadette war Adeles zweite Schwester. Die Heberts waren vier Geschwister, für hiesige Verhältnisse eine eher kleine Familie. Rosa war durch eigene Hand gestorben, Clifton lebte tief in den Sümpfen, wo ihn niemand fand, wenn er es nicht wollte. Bernadette war verheiratet und wohnte am Bayou Caneche, einem kleinen Nebenfluss des Bayou Teche.
»Ich fahr jetzt dorthin.«
»Sei vorsichtig, Raymond. Abergläubische Vorstellungen sind gefährlich, manchmal aber ist es fehlender Glaube, der Schaden anrichtet.«
Marguerite Bastion zog den Schal enger um die Schultern und schenkte Kaffee ein. Vater Michael wusste, das zierliche Knochenporzellan hatte wie so viele andere Dinge im Haus der Bastions eine hübsche Stange Geld gekostet. Marguerite Bastion, geborene Mandeville, eine Schönheit aus New Orleans, hatte Kultur und Vornehmheit in die Wildnis gebracht. Selbst jetzt in ihrer Trauer bestach sie mit ihren aristokratischen Zügen, ihrer Gefasstheit, die von ihrer Erziehung zeugte. Sie schenkte Kaffee ein und bot ihm einen Teller mit Süßigkeiten an.
Erneut wunderte sich der Priester über die Verbindung zwischen ihr und Henri, einem Mann, der zumindest bei seinen Geschäften als skrupellos und brutal galt. Durch Marguerites Ehe mit Henri war der politische Einfluss der Mandevilles mit Henris Reichtum und dessen Anteilen an den Ölfeldern im Golf verbunden worden – und hatte ihr ein abgeschiedenes, mühevolles Leben eingetragen.
»Noch ein Stück Tarte, Vater?«
Er schüttelte den Kopf. »Wir in Louisiana können von Glück reden. Die
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