Im Nebel eines neuen Morgens - Kriminalroman
Mädchen, das ihn zum Kichern bringt.« Marcels Worte hatten sie verletzt, aber sie wollte den Teufel tun und sich etwas anmerken lassen.
Marcel räumte die Sachen zurück. »Raymond meidet seine Familie. Er meidet alle, die er vor dem Krieg gekannt hat.«
»Vielleicht hat er Besseres zu tun.« Florence hielt den Blick auf die Kleider gerichtet. Sie wurde von Raymond nicht gemieden – er suchte sie auf. Manchmal, kurz vor dem Einschlafen, streichelte er ihr das Gesicht mit solcher Zärtlichkeit, dass er damit ihrer geheimen Hoffnung Nahrung gab, die in ihrem Herzen loderte.
Marcel seufzte. »Er war mal mit Chula Baker zusammen, und dieses andere Mädchen hat er kurz vor der Heirat versetzt. Ich hab gehört, sie hat immer noch Liebeskummer und ist nach New Orleans gezogen, damit sie ihn nicht mehr sehen muss.«
»Ein Kätzchen, das meinte, einen Löwen lieben zu wollen. Es musste ja so enden.« Florence nahm sich das grüne blumengemusterte und das schwarze Kleid. »Die werde ich anprobieren. Ich bin nächsten Monat in Baton Rouge zu einem Abendessen eingeladen.« Das war gelogen, aber damit würde sich Marcel wenigstens nicht zu sehr auf Raymond versteifen.
»Bei den Sinclairs?«
Florence lächelte nur und verschwand in der Umkleide. Je weniger Fakten Marcel hatte, umso weniger würde sie ihre Zunge im Zaum halten können.
Teche war das indianische Wort für »Schlange« und eine treffende Beschreibung für den tiefen Bayou, der sich durch die Gemeinde schlängelte und die Lebensader von New Iberia darstellte. Bayou Teche, der Schlangenfluss, der Ernährer und Zerstörer. Langsam fuhr Raymond über die Brücke, die sich über das ruhige gelbe Gewässer spannte. Wie so vieles im Leben hatte auch der Bayou zwei Gesichter.
Als Junge hatte er den Bayou geliebt. Er sowie sein Vater und Antoine hatten hier viele Nachmittage beim Angeln verbracht, waren gemächlich an den Alligatoren, Schlangen und Schnappschildkröten vorbeigepaddelt, die einem erwachsenen Mann die Hand abbeißen konnten. Er hatte noch immer die Stimme seines Vaters im Ohr: »Alle Lebewesen haben ihren Platz und ihren Zweck. Bringt keines davon um, außer es ist unumgänglich. Als Nahrung, oder wenn ihr euch selbst oder eure Lieben schützen müsst. Es gibt nichts Schlimmeres als Menschen, die zum Spaß töten.«
Oft hörte er diese Worte in seinen Albträumen.
Er fuhr nach Nordosten auf den vom Unwetter noch immer verwüsteten, schlammigen Straßen. Bayou Caneche, ein schmaler Zufluss, der mit kleinen Booten noch navigierbar war, floss zehn Meilen nördlich von New Iberia in den Teche. Keiner hatte ihm eindeutige Richtungsangaben zu Bernadette Matthews Haus geben können, zumindest nicht auf dem Landweg. Er hatte eine allgemeine Vorstellung von der Gegend, er würde Bernadette finden, die »normale Schwester«, die als Nächstes auf seiner Liste der zu befragenden Personen stand.
Seine Gedanken schweiften zu Adele und ihren flackernden Augenlidern, als schlage darunter eine in ein Glas eingesperrte Motte. Kein Einziger in der Stadt gab an, mit ihr befreundet zu sein oder sie auch nur zu kennen. Auch sie war eingesperrt. Bevor er jedoch den Deckel öffnen konnte, musste er erst herausfinden, was sie gefangen hielt.
Die Sonne stand hell am Himmel, es war ein schöner Tag. Meilenweit fuhr er an Schilfgräsern vorbei, die im leichten Wind wogten, der die letzten grünen Erinnerungen an den Sommer zur Küste trug. Die Landschaft würde sich bald bräunlich färben und ein ödes Antlitz annehmen, dem eine ganz eigene Schönheit anhaftete. Schon waren die ersten Sumpfzypressen zu sehen. Die fedrigen rostbraunen Farne spiegelten sich in den schwarzen Sumpftümpeln, die seinen Weg säumten.
Nach dem langen Krankenhausaufenthalt war er nach New Iberia zurückgekehrt, weil es seine Heimat war. Weil er nirgendwo sonst hin konnte. Kein Ort hatte sich ihm aufgedrängt, hatte ihm das Leben versprochen, das er sich einmal erträumt hatte – mit Frau und Kindern, Arbeit und Wochenenden, an denen er mit Freunden tanzen und trinken konnte. Dieses Leben war ihm von nun an für immer verwehrt. Antoine, ein Junge, der sich die Wirklichkeit des Krieges niemals hatte vorstellen können, war tot. Was er selbst gesehen und getan hatte, hatte ihn verändert, die Folgen dessen würden ihn nie mehr loslassen.
Vielleicht fühlte er sich deshalb gezwungen, Adele zu helfen. Auf seltsame Weise waren sie beide Gefangene äußerer Mächte. Er war in den Krieg gezogen,
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