Im Nebel eines neuen Morgens - Kriminalroman
Schönheit. Er ließ seine Hand einen Millimeter über ihrer Wange schweben. Nur zu gern hätte er sie berührt, aber er hielt sich zurück. Wenn er sie betrachtete, glaubte er sie manchmal als Kind sehen zu können, als vollkommene, unberührte Schönheit, bevor sich der Schmerz in ihre grünen Augen geschlichen hatte, den er dort manchmal wahrnahm.
Er hatte tapfere Männer gekannt, aber keinen von ihnen hielt er für mutiger als Florence. Lächelnd, voller Sanftmut stellte sie sich dem Leben. Das waren ihre Waffen, die sie wie eine Kriegerin einsetzte. Er musste sie nicht beschützen, weil sie stärker war als er.
Das Heulen eines Wolfs tönte durch die Nacht, fern, aber klar zu erkennen. Er bekam eine Gänsehaut. Die Trapper hatten die großen Raubtiere – Bären, Wölfe und Raubkatzen – in den Sümpfen fast vollständig ausgerottet. Nur einige wenige gab es noch. War Henri Bastion bei seinem Spaziergang von einem von ihnen angefallen worden? Er hoffte, Doc Fletcher würde einige Aussagen über das Tier machen können, das Henri getötet hatte.
Er wollte los, aber Florence schlief so friedlich, und was konnte er ihr sonst geben? Eine Nacht, in der er bei ihr blieb, nach der großzügigen Fülle ihrer Liebe. Sie brachte ihm starke Gefühle entgegen, er wusste es, und trotzdem hätte er es nicht ertragen, wenn sie es laut ausgesprochen hätte. Zwei bis drei Mal in der Woche kam er zu ihr, das allein machte deutlich, wie sehr er auf sie angewiesen war.
Das Haus, das er am Stadtrand gekauft hatte, enthielt nur, was zum Leben absolut notwendig war – ein Bett, eine Toilette, eine Lampe. Die Nächte, die er dort allein verbrachte, waren für ihn Prüfungen des Erduldens. Oft genug versuchte er gar nicht zu schlafen, wollte den Albträumen entgehen, die ihm zusetzten, und den Schmerzen, die in der Dunkelheit über seinen Körper herfielen. Florence’ Gegenwart linderte das alles. Manchmal schwor er sich, sie nicht mehr aufzusuchen, aber er kam immer wieder. Sie war das Einzige, was sein Leben erträglich machte.
Wehklagend, ein Schrei der Einsamkeit, der einen frösteln ließ, so erklang der Wolf wieder. Es kam keine Antwort. Raymond überlegte, ob es ein Einzelgänger sein konnte, dessen Rudel getötet worden war.
Urplötzlich stand ihm Adeles Gesicht vor Augen, und ebenso plötzlich erfasste ihn Sorge um Madame Louiselle. Am liebsten wäre er, getrieben von Angst und Schuldgefühlen, aufgesprungen, aber er blieb reglos liegen und lauschte dem gleichmäßigen Atem der Frau, die sich an ihn kuschelte.
Adele war schwach wie ein Kätzchen, sofern sie überhaupt noch am Leben war. Er zweifelte, dass sie das Fieber überstehen würde. Seine Sorgen um Madame waren unbegründet, und so versuchte er sich widerwillig zu entspannen. Mit dem Finger strich er über Florence’ Gesicht, und sie schob sich noch enger an ihn. Vor dem Krieg hatte er geglaubt, er könnte jederzeit Frau und Kinder haben, wenn er nur wollte. Er hatte sich vorgestellt, er würde seine Dienstzeit beenden, nach Hause zurückkehren und wieder in den Rhythmus des Lebens fallen, das er in Iberia kannte. Insgeheim träumte er von einer Ausbildung – die Armee hätte das ermöglicht. Er hatte Journalist werden wollen, hatte sich als modernen Historiker gesehen, der sich für Fakten interessierte und sie aufzeichnete. Journalisten gingen den Dingen auf den Grund, sie durchschauten sie, was schon immer seine Stärke gewesen war. Chula hatte ihn in seinen Träumen unterstützt, auch dann noch, als ihre Leidenschaft abgekühlt war.
Aber der Krieg hatte ihn verändert. Für eine weitere Ausbildung fehlte ihm jeglicher Ehrgeiz. Er war nach Hause gekommen und hatte sich trotz der manchmal unerträglichen Schmerzen in Bein und Hüfte in seiner Arbeit als Deputy eingerichtet. Es gab im Sheriffbüro nicht viel zu durchschauen, aber wenn, dann war er es, der es tat.
Bei Sonnenaufgang würde er einigen Spuren nachgehen müssen. Er hatte Clifton Hebert noch nicht gefunden, aber einige der aufgeschnappten Gerüchte hatten sein Interesse geweckt. Clifton hielt sich tief in den Sümpfen auf – keiner konnte oder wollte ihm den genauen Aufenthaltsort verraten. Die von ihm Befragten waren sich aber alle einig, dass Clifton Hebert eine scharfe Hundemeute hielt. Hunde für die Saujagd. Viecher, die so blutrünstig und zäh waren, dass sie sogar die wilden Eber angingen und sich in ihre Rüssel oder Ohren verbissen, bis die Jäger heran waren, um den Eber zu erlegen
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