Im Nebel eines neuen Morgens - Kriminalroman
der Unzulänglichkeit, das ihn so sehr plagte. Er hatte Rosa fallen lassen, als sie ihn am dringendsten gebraucht hätte. Vor allem aus diesem Grund stand ihm ihr Selbstmord stets so lebhaft vor Augen.
»Vater Finley?«
Er schreckte auf, rasch drehte er sich um. Heißer Kaffee schwappte ihm auf die Hand. »Wer ist da?« Es war eine weibliche Stimme, die ihn angesprochen hatte, eine, die er nicht einordnen konnte.
»Chula Baker. Ich hab einen Brief für Sie. Aus Rom. Ich dachte, es wäre eilig, also hab ich ihn vorbeigebracht.«
Chula erschien am Gartentor. Falls sie wusste, was es mit dem Baum hinter ihr auf sich hatte, ließ sie es sich nicht anmerken. Sie öffnete das knarrende Tor und kam mit ausgestrecktem Arm und einem zerknitterten Brief auf ihn zu. »Ich hab vorn geklopft, aber nachdem niemand aufgemacht hat, dachte ich mir, vielleicht nehmen Sie ja hinten im Garten Ihren Kaffee zu sich.« Sie sah sich um. »Wie schön hier. Ganz wunderbar. Die Mother’s-Rosen blühen ja noch. Sie sind schön, aber sie vertragen die Hitze schlecht.«
Er nahm den Brief entgegen. »Danke, Chula.«
»Einen schönen Tag noch, Vater.« Das Tor knarrte, dann war sie verschwunden.
Der Priester hielt den Brief in der einen Hand, in der anderen die Kaffeetasse, und bemühte sich sehr um einen klaren Gedanken. Er stellte die Tasse ab und riss den Umschlag auf. Zweimal las er den Text, bevor ihm die Seiten aus der Hand glitten.
Rosas Selbstmord hatte alles zunichte gemacht, wofür er gearbeitet hatte. Er wurde vom Heiligen Stuhl aufgefordert, seine Bestrebungen, Rosa als Stigmatisierte anerkennen zu lassen, sofort einzustellen. Der Ton war unmissverständlich: Jede weitere Bemühung seinerseits würde ihm als Ungehorsam und Häresie ausgelegt werden. Er solle sich darauf konzentrieren, »demütig und bescheiden« seiner Gemeinde zu dienen. Er musste gar nicht zwischen den Zeilen lesen, um zu erkennen, dass er als jemand betrachtet wurde, der sich im Glanz anderer zu sonnen versuchte.
Über die Seiten des Briefes hinweg ging er zum Tor und hielt sich an den schmiedeeisernen Stäben fest wie ein Gefangener hinter Gittern. Er sah zur Eiche. Jede Eiche, sagte man, zeige an, dass die heilige Maria hier gewesen sei. Dort, wo eine Eiche wuchs, habe sie angeblich ihren Fuß gesetzt. Aber er konnte sich nicht mehr zu dem Glauben durchringen, dass Maria oder irgendeine andere Gottheit jemals ihren Fuß auf diesen verfluchten Landstrich gesetzt hatte.
Während er immer noch die schmiedeeisernen Stäbe umklammerte, glitt er langsam auf die Knie. Vor ihm tat sich eine öde Zukunft auf, und was er vor sich sah, war die Schwärze seiner Enttäuschung. Ein Wunder war ihm geschenkt worden, und er hatte es zerstört. Sein Glaube an Rosa war nicht fest genug gewesen. Er hatte sie eines Abends befragt und hatte wissen wollen, ob sie sich die Verletzungen selbst zufüge. Wie viele Jahre auch noch vergehen mochten, nie würde er ihren Blick vergessen. Noch in jener Nacht hatte sie sich erhängt. Sein Augenblick des Zweifels hatte auch sie zweifeln lassen. Dass sie jetzt tot war, hatte er zu verantworten – so gewiss, als hätte er ihr selbst den Strick um den Hals gelegt und sie vom Ast gestoßen.
Feste Hände legten sich auf seine Arme. Scham über die eigene Schwäche überkam ihn, während er noch auf den Knien herumfuhr und in die Augen von Colista LaSalle schaute, seiner Haushälterin.
»Kommen Sie rein, Vater Finley«, sagte sie und half ihm mit ihren starken Händen auf die Beine. »Kommen Sie. Der Garten ist nicht der rechte Ort, um von den Nonnen oder Schulkindern auf den Knien gesehen zu werden.«
Er ließ sich aufhelfen. »Ich habe gebetet. Für Rosa. Und für mich.«
»Ihr Frühstück wird kalt.« Sie zog ihn in Richtung Tür.
Er löste sich von ihr. »Danke, Colista.« Er konnte ihr nicht in die Augen sehen und hatte nicht das geringste Verlangen, ihren fragenden Blick auf sich zu spüren. »Ich komme gleich.«
»Geht es Ihnen wieder besser?«
Er nickte. »Ich beende nur noch meine Andacht und komme gleich nach.«
Sie drehte sich um und ging hinein, ohne sich noch einmal umzusehen.
Alle Gebete der Welt konnten nicht ungeschehen machen, was Rosa widerfahren war. Das Beste, was er tun konnte, wäre, ins Haus zu gehen und das herzhafte, von Colista zubereitete Frühstück zu sich zu nehmen, als wäre nichts Außergewöhnliches geschehen.
Der Wind trug den moschusartigen Geruch zu Raymond. Reglos verharrte er. Wenn er nah
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