Im Nebel eines neuen Morgens - Kriminalroman
trinken und mit ihm reden konnte. Die meisten Männer wollten von ihren Erinnerungen oder ihren Träumen nichts hören. Raymond mochte es, wenn sie von sich erzählte, und sie wollte, dass er ein Bild von ihr bekam, als sie noch unschuldig und rein gewesen war.
»Hattest du Angst vor dem großen bösen Wolf?«, fragte er. Seine Hand glitt zu ihrem Arm, sie schmiegte sich an ihn.
»Als ich klein war, bevor Mama in das Haus in Baton Rouge zog.« Sie lachte. »Großmutter war eine wunderbare Geschichtenerzählerin. Sie packte uns Kinder alle zu sich ins Bett, fünf oder sechs von uns, alle unter die Decke. Das Haus war aus Holz, die Flammen im Kamin tanzten an den Wänden und färbten sie rot. Dann erzählte uns Großmutter von Pierre, einem Mann, der das Geld liebte – mehr als alles andere auf der Welt.«
»Erzähl mir die Geschichte.«
Sie drängte sich noch fester an ihn und atmete seinen Geruch ein. »Pierre vergrub sein Geld in den Sümpfen, wo niemand es finden konnte. Er ließ seine Frau und seine Kinder hungern, so ein Mensch war er. Wenn er morgens zur Arbeit ging, hinterließ er im Mehltopf den Abdruck seiner Hand, damit seine Frau nichts nehmen konnte, um den Kindern was zum Essen zu geben. Er sagte, sie sollen Eichel essen oder Fische fangen, aber von ihm würden sie nichts bekommen.«
»Gab es diesen Pierre wirklich?«
Florence schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung. Ich bin ihm nie begegnet, vielleicht war er jemand aus der Zeit meiner Großmutter.«
»Erzähl mir den Rest der Geschichte.«
»Pierre kam jeden Abend nach Hause und ging dann allein in den Sumpf, um das Geld, das er verdient hatte, zu vergraben. Eines Nachts war es schon spät, und er nutzte das Licht des Vollmonds, um das Öl für die Laterne zu sparen. Als er an der richtigen Stelle war und zu graben anfing, hörte er etwas im Wald. Er war wütend, weil er glaubte, eines seiner Kinder sei ihm gefolgt, um sein geheimes Versteck herauszufinden.
›Komm raus, damit ich dir eine ordentliche Tracht Prügel verpassen kann‹, sagte er. Als Antwort kam nur ein Rascheln aus dem Unterholz. Er wurde noch wütender, zündete die Laterne an und hielt sie hoch. ›Komm raus, oder ich versohl dich, bis du nicht mehr laufen kannst‹, rief er.
Statt eines Kindes kam eine schöne Frau aus dem Holz. Sie trug ein weißes Kleid mit einem silbernen Gürtel. Über ihren Schultern hatte sie einen silbernen Pelz mit schwarzer Spitze. So etwas Schönes hatte er noch nie gesehen.«
»In meiner Familie wurde die Geschichte des loup-garou anders erzählt. Von einer wunderschönen Frau war, soweit ich mich erinnern kann, nicht die Rede.« Raymond leerte seinen Drink, worauf sie ihm ihr Glas reichte und seines entgegennahm.
»So hat Großmutter sie uns erzählt.«
Ein Windstoß fuhr in die Äste und brachte die Schatten auf dem Boden in Bewegung.
»Wie ging es mit Pierre und der schönen Frau weiter?«
»Pierre war von ihrer Schönheit so angetan, dass er glatt vergaß, sein Geld zu vergraben. Er kroch aus seinem Loch. ›Hast du dich verirrt?‹, fragte er. Sie sagte, nein, sie wüsste genau, wo sie sich befand. Und sie sagte, dass sie mit ihm reden möchte. Er drehte sich um und griff nach seiner Laterne, doch als er das Licht hochschwang, um ihr Gesicht besser sehen zu können, stand vor ihm ein riesiger grau-schwarzer Wolf mit einem silbernen Gürtel um den Hals.«
Florence zögerte. Seit Jahren hatte sie nicht mehr an diese Geschichte gedacht, jetzt aber war sie ganz gebannt von dem Bild, das ihr vor Augen stand.
»Florence?«
»Mir fällt gerade ein, dass ich das Ende der Geschichte nie gemocht habe.«
»Erzählst du sie zu Ende? Ich bin auch schon ganz angetan von dieser schönen Frau, die sich in ein wildes Tier verwandelt.«
»Komm rein.« Die im Mondlicht über den Boden huschenden Schatten machten sie nervös. »Mir wird hier immer ganz gruselig zumute.« Sie lachte und hörte selbst, wie hohl ihre Stimme klang.
Raymond schloss und versperrte die Tür und drehte sich zu ihr um. Sie nahm die beiden Gläser und stellte sie auf einen kleinen Tisch. Er ließ sich auf dem Sofa nieder und zog sie zu sich auf den Schoß. »Erzähl mir das Ende der Geschichte.«
Florence konnte seinen gleichmäßigen, beruhigenden Herzschlag hören. Wie dumm von ihr, wenn sie die Ängste ihrer Kindheit erneut durchlebte, ihr war doch klar, wie sehr Aberglaube auf Unwissenheit beruhte.
»Pierre rannte um sein Leben, der Wolf hinter ihm her. Er schaffte es sogar
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