Im Nebel eines neuen Morgens - Kriminalroman
des Wortes nie zum Mann geworden.
In den Monaten seit Antoines Tod hatte sich die Erde mit einem frischen Grasbelag erneuert, die Wunden aber, die sein Tod gerissen hatte, lagen so offen wie eh und je. Niemand in der Familie hatte sich von dem Verlust erholt und würde es jemals tun. Tony war das Herz der Familie gewesen, derjenige, der alle zusammengehalten und ihnen neuen Mut gegeben hatte, nachdem Ambrose Thibodeaux bei einem Bootsunfall tödlich verunglückt war. Jetzt waren sie alle, jeder auf seine Weise, vom Weg abgekommen und fanden sich nicht mehr zurecht.
Er konnte mit seiner Mutter nicht mehr reden. Ihr Schmerz war zu viel für ihn. Antoine war, seinem Beispiel folgend, in die Armee eingetreten, weil er für sein Land und die gute Sache kämpfen wollte. In ihrer beider idealistischen Vorstellung glich der Krieg einem Jungenspiel, es war wie Flaschen vom Zaunpfosten schießen. Einen Deutschen, zwei, drei, vier Deutsche erledigt. Raymond war ein guter Scharfschütze; Krieg, so hatte er sich vorgestellt, sei Tod aus der Ferne.
Bei seinem ersten Kampfeinsatz wurde er eines Besseren belehrt. Er hatte sich durch einen Wald geschlagen und von hinten an eine mit drei deutschen Soldaten besetzte Mörserstellung geschlichen. Den ersten traf er in die Brust, den zweiten im Hals, bevor die beiden überhaupt wussten, wie ihnen geschah. Der dritte, Todesangst im Gesicht, drehte sich zu ihm um, spähte in den Wald und hielt nach der Kugel Ausschau, die ihn töten würde. Raymond erschoss ihn, weil er damit amerikanische Leben rettete, das Leben seines Bruders und seiner Kameraden. Doch damit fingen die Träume an, die Bilder blutüberströmter junger Männer, die statt Hände nur noch ihre Armstümpfe hochhielten und um Gnade flehten. Gnade, die Raymond ihnen nicht gewähren konnte. Er war ein widerwilliger, aber effizienter Killer, und sein einziger Trost war, dass er durch seine freiwilligen Einsätze dazu beitrug, dass Antoine nichts geschah.
Wie er hatte sich Tony zur Infanterie gemeldet; er wusste, sein großer Bruder würde ihn beschützen. Aber Raymond hatte schrecklich versagt. Der kalte Stein unter seinen Händen zeugte davon. Die Ernte, die er für seine Familie eingefahren hatte, bestand aus Tod und Verlust und Leid – jene grausame Ernte, vor der seine Urgroßmutter ihn gewarnt hatte. Wenn sich in ihm wieder der Wunsch nach Leben regte, musste er nur hierherkommen und sich seine Ernte ansehen.
Als er einen Wagen hörte, der über den unebenen Weg holperte, stand er auf. Ihm war, als hätte er geschlafen, dabei war er nur zehn Minuten am Grab gewesen. Aber die Nacht hatte eine andere Farbe angenommen.
Als er den alten Pick-up erkannte, wurde ihm schwer ums Herz. Den gesamten Tag über hatte er den Friedhof gemieden und gehofft, er würde niemandem aus seiner Familie über den Weg laufen. Seine Schwester parkte neben seinem Wagen und kam auf ihn zu.
»Was machst du hier?«, fragte sie leise.
Raymond trat vom Grabstein zurück. Elisha sah aus wie eine Hexe, das dunkle Haar hing ihr in zerzausten Locken ins Gesicht. Sie war einmal schön gewesen, ein schlankes Mädchen mit Augen so zart wie die einer Taube. Das nun hatte der Schmerz aus ihr gemacht.
Er trat um sie herum, entschlossen, zu seinem Wagen zurückzukehren und sich auf den Weg zu machen. Er hatte Antoine besucht und wollte nicht mit seiner Schwester reden. Er konnte ihr oder seiner Mutter noch nicht mal in die Augen sehen.
»Raymond, bitte!« Elisha näherte sich ihm. »Willst du nicht mit mir reden?« Tränen schimmerten auf ihrem blassen Gesicht. »Mama liegt im Sterben, Raymond. Der Kummer bringt sie um. Antoine ist tot, aber du bist es nicht.«
Am liebsten hätte er sie an den Schultern gepackt und an sich gezogen, sie an sich gedrückt, um den Schmerz zu stillen, der sie auseinanderriss. Aber er konnte ihr keinen Trost spenden. »Ich kann Mama nicht helfen. Ich kann niemandem helfen. Wenn sie mich sieht, bricht alles von neuem auf. Dann muss sie nur an den Tod von Antoine denken.«
»Wenn sie dich sieht, dann sieht sie ihren Sohn.« Elisha streckte die Hand nach ihm aus. »Raymond, sie spricht ständig von dir, wie sehr du wie Papa aussiehst, wie du dieses oder jenes getan hast. Bitte, geh zu ihr. Bevor es zu spät ist.«
In der dunklen Nacht wirkte Elisha wie ein Gespenst. Sie war hager, die Wangen waren eingefallen, Falten zogen sich über ihre Haut, die eigentlich zu jung und zu zart dafür war. Wie sehr er sie auch trösten
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