Im Nebel eines neuen Morgens - Kriminalroman
Sie drehte sich um, verstärkte den Griff um die Kristallkugel, die sie, falls nötig, als Waffe einsetzen wollte. Ihr Blick wanderte über den Vorgarten, wo sich die Schatten der Eichenzweige bewegten, durch die im Mondlicht der Wind fuhr.
Sie wollte etwas rufen, aber ihr kam kein Ton über die Lippen. Sie zog die knarrende Fliegentür auf, drehte sich um und wollte hineingehen.
Eine starke Hand umklammerte ihren Knöchel. Sie schrie auf, im gleichen Augenblick stürzte sie mit dem Kopf voraus gegen die Eingangstür und versuchte die Hand wegzustrampeln, die ihr Bein umfasst hielt. Einen Augenblick später lag sie auf dem Bauch, trat mit den Beinen, spürte, wie sie etwas mit der Ferse traf, worauf sie nur noch heftiger strampelte.
»Lass das, du Wildkatze«, hörte sie eine winselnde Männerstimme. »Florence, beruhig dich doch! Sonst triffst du mich noch am Kopf.«
Sie drehte sich auf den Rücken, setzte sich auf und erkannte Praytor Bless, der auf der obersten Stufe kniete und sich die Schulter rieb.
»Du hast mir fast die Schulter ausgerenkt.« Er stand auf. »Ich wollte mir auch die Zukunft vorhersagen lassen.«
Sie war stinksauer, zwang sich aber dazu, kurz durchzuatmen und den Fluch hinunterzuschlucken, den sie ihm am liebsten an den Kopf geworfen hätte. Sie bemerkte, dass Praytor ein frisch gebügeltes Hemd trug, was sie ihm zugutehalten musste, gleichzeitig roch sie aber auch den Whiskey in seinem Atem.
»Du hast mich zu Tode erschreckt.« Sie erhob sich und nahm die Kristallkugel, die über den Boden gerollt war. »Du kommst zu spät, Praytor. Heute Abend ist es mit den Weissagungen vorbei.«
»Ich hab gewartet, bis die Kinder fort waren. Dachte, es würde mehr Spaß machen, wenn wir beide allein wären.«
Sie sah an ihm vorbei in die Nacht. »Heute nicht. Ich bin müde.«
»Du bist ziemlich oft müde, scheint mir.«
Er war schon halb im Haus. Draußen hatte sie sich von ihren eigenen Phantasiegebilden erschrecken lassen. Und auch wenn Praytor keiner war, vor dem sie Angst gehabt hätte, war sie trotzdem bestrebt, eine gewisse Fassade aufrechtzuerhalten. Er trug Informationen zusammen, sein scharfer Blick sah Dinge, die anderen entgingen. Aber heute Abend war er betrunken.
»Fahr nach Hause, und komm morgen wieder. Dann können wir es beide mehr genießen.«
»Ich hab eigentlich nicht vorgehabt, nach Hause zu fahren.« Er kniff die Augen zusammen. »Du siehst nicht so aus, als hättest du im Moment sonderlich viel zu tun. Hast du vielleicht noch was vor?«
Mit einem Seufzen ließ sie es sich durch den Kopf gehen. Ja, es wäre einfacher, sich die zehn Minuten Zeit zu nehmen, die sie bräuchte, um ihn zu bedienen, aber irgendwas in ihr rebellierte dagegen. »Was ich vorhabe, geht dich nichts an, cher . Fahr nach Hause, und wir sehen uns morgen wieder.« Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Ich bin müde, Praytor. Ich möchte dir gern richtig zu Diensten sein, aber das geht heute nicht mehr.« Sie fasste sich an die Stirn. »Ich hab stechende Kopfschmerzen.«
Er stand nur da und stierte sie an. Sie bekam eine Gänsehaut. Praytor erinnerte sie immer an ein Insekt, das in einer dunklen Spalte darauf wartete, andere, schwächere Tiere anzufallen und verschlingen zu können.
»Du weist mich zurück?«
Sie schluckte. »Nur heute Nacht. Wir sehen uns morgen.« Und wenn sein Wagen dann vorfuhr, würde sie die Tür zusperren und auf sein Klopfen nicht reagieren. Sie trat auf ihn zu, entschlossen, um ihm zu zeigen, dass sie keine Angst hatte. »Ich bin müde, cher . Mein Kopf tut weh. Morgen werden wir unseren Spaß haben.«
Dann sah sie an ihm vorbei, und ihr war, als würde sich ihr Brustkorb zusammenziehen. Jemand – oder etwas – versteckte sich hinter der Eiche an der Straße.
»Was?« Praytor, dem ihr Blick nicht entging, drehte sich um. »Ist da jemand?«
»Dort!« Ihre Stimme überschlug sich fast vor Angst. »Dort hinter dem Baum, da ist jemand!«
»Der mir nachspioniert?« Praytor wurde wütend. »Den werd ich mir schnappen, und dann werd ich ihm was erzählen – mir nachzuspionieren!« Er stolperte die Stufen hinunter und torkelte durch den Vorgarten zur großen Eiche.
Etwas Großes huschte davon. Florence stieß einen Schrei aus, als sie die schattenhafte Gestalt zwischen den Bäumen auf der anderen Straßenseite verschwinden sah. Sie wusste nicht genau, was sie gesehen hatte – einen Menschen oder irgendein großes Tier. Es war zu dunkel, um irgendwelche Einzelheiten zu
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